DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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TATJANA GÜRBACA

"Auch unserer heutigen Europa Politik benötigt einen Fernen Klang"

OF: Liebe Frau Gürbaca, Sie haben gerade am Nationaltheater Mannheim Franz Schrekers Oper „Der ferne Klang“ inszeniert. Premiere war am 10. Juli. Als vor etwa einem Jahr das Spielzeitbuch für die aktuelle Saison herauskam, stand auf der Seite, die die Produktion ankündigte, bei der Inszenierung noch ein NN. Sie scheinen mithin relativ kurzfristig mit der Regie betraut worden zu sein. Wie und wann ist es dazu gekommen?

G: Das war fast zur gleichen Zeit als das Spielzeitbuch herauskam. Ich und mein Team saßen seit fast einem Jahr an der Konzeption. Es war Opernintendant Klaus Peter Kehr, der mich damals fragte, ob ich mich für dieses Stück interessieren würde, was ich bejahte. Ich kannte das Werk bereits, weil ich es vor vielen Jahren schon einmal in Berlin in einer Inszenierung von Peter Mussbach gesehen hatte. Ich erinnerte mich, dass ich damals die Musik sehr aufregend fand. Gleichzeitig hatte ich aber auch das Gefühl, dass es da noch einiges gäbe, was man über das Stück erzählen könnte. So habe ich sein Angebot angenommen.

OF: Inwieweit hat sich Ihre Wahrnehmung von dem Werk seit damals verändert?

G: Sehr stark! Bevor ich mich im Zuge der Mannheimer Produktion intensiv mit dem Stück beschäftigt habe, bin ich immer davon ausgegangen, dass es sich dabei um eine Art Künstlerdrama handeln würde, dass stark der Jahrhundertwende verhaftet sei und neben dem Hauptgeschehen viele ornamentale Handlungsstränge mit Jugendstil-Motiven enthalte. Als ich dann zum ersten Mal in die Noten geschaut habe, war ich sehr überrascht, dass Grete viel mehr im Mittelpunkt steht als Fritz. Gerade in den ersten zweieinhalb Akten handelt es sich ja fast um die Geschichte einer Emanzipation. Spannend fand ich auch die Entdeckung, dass das Stück im dritten Akt einen Kipppunkt aufweist, an dem man sich plötzlich fragt, wer hier eigentlich wen träumt: Grete den Fritz oder Fritz die Grete?

OF: Schreker hat eine ungemein vielschichtige Musik geschrieben. Was macht für Sie den spezifischen Reiz seiner Klangsprache aus?

G: In einer gewissen Weise finde ich, dass Schreker fast wie Kurt Weill funktioniert. Er wendet beim Komponieren eine Art Collage-Technik an und arbeitet mit unheimlich vielen Zitaten. Einerseits spürt man seine hohe Verehrung zu Richard Wagner, andererseits ist diese aber auch von einem Fünkchen Ironie geprägt, was mir persönlich sehr gut gefällt. Man merkt, dass 1910 in Wien sehr viele unterschiedliche Strömungen zusammenkommen sind. Inhaltlich weist das Stück starke Bezüge zu Wedekind, Schnitzler und Freud auf. Und in der Musik spürt man, wie schon gesagt, das Vorbild Richard Wagners sehr stark. Darüber hinaus wird aber auch offenkundig, dass Schreker den „Fernen Klang“ in der ganz frühen Stummfilmzeit komponiert hat. Auch der frühe Schönberg schimmert in der Partitur ein wenig durch. Und gerade das finde ich so wahnsinnig aufregend, dass diese Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts von so vielen parallel laufenden Stilen geprägt war.

OF: Wie bereiteten Sie sich auf die Manneimer Produktion des „Fernen Klangs“ vor?

G: Ich habe sehr viel gelesen. So holte ich beispielsweise die Tagebücher der Alma Mahler-Werfel aus dem Schrank und beschäftigte mich mit Lou Andreas Salome. Ich habe immer wieder die Musik gehört und viel über Schreker und seine Zeit gelesen. Lustigerweise habe ich mir auch viele Tarkowsky-Filme angeschaut. In erster Linie hat mich aber die Frage beschäftigt, wie es mir gelingt deutlich zu machen, dass es sich hier um das innere Erleben einer Figur, Grete, handelt.

(c) Hans Jörg Michel

OF: Welche Bedeutung messen Sie dem „Fernen Klang“ bezüglich der Entwicklung der modernen Musik zu?

G: Für mich ist er ein Schwellenstück, das genau auf der Kippe zwischen Romantik und Moderne angesiedelt ist. Es ist ausgesprochen spannend zu beobachten, wie Schreker Wagner weiter treibt und weiter denkt. Über den Fakt, dass er den Bayreuther Meister auch ironisiert, haben wir ja schon gesprochen. Wagner wird mit allen seinen Erlösungsbegriffen karikiert und auf den Boden der Realität zurückgeholt. Schon darin liegt ein gewaltiger Schritt in die Moderne. Der erste Akt des „Fernen Klangs“ erinnert mich sehr an die „Walküre“, in der Brünnhilde am Ende auf dem Felsen, in einen Feuerkreis eingeschlossen, zurückbleibt. Und hier ist es Grete, die zurückbleibt, eingepfercht in eine spießige Familie. Der zweite Akt wird dann von ihrem Warten auf den Erlöser geprägt. So wie Fritz bei seiner Ankunft auf dem Schiff beschrieben wird, könnte er Lohengrin sein oder auch der fliegende Holländer. Dann aber erweist er sich für Grete als herbe Enttäuschung. Er bringt ihr nicht die ersehnte Erlösung, und sein Weg ist nicht derjenige, den sie gehen möchte. Dann finde ich noch bemerkenswert, dass hier mit dem Pathos gespielt wird, ihm gleichzeitig aber auch der Stachel gezogen wird.

OF: Den dritten Akt stellen Sie als Theater auf dem Theater dar. Womit wir bei Bertolt Brecht wären. Inwieweit messen Sie seinen Theorien für den modernen Opern- und Theaterbetrieb Bedeutung zu?

G: An Brecht kommt man gar nicht vorbei. Er ist immer noch der ganz große Meilenstein. Er hat ganz neu über das Theater nachgedacht und ihm seine Naivität genommen. Er exponiert, dass wir etwas spielen, wenn wir auf dem Theater stehen, und das für ein Publikum, das im besten Fall zum Komplizen der Darsteller werden kann.

OF: Wie genau verläuft die Entwicklung der beiden Hauptfiguren Grete und Fritz?

G: Als ich das Stück das erste Mal gelesen habe, war ich ganz enttäuscht darüber, dass Fritz darin so wenig vorkommt. Im ersten Akt entspricht er ganz einem Homo ökonomikus. Der ferne Klang, den er sucht und teilweise bereits erahnt hat, ist nur eines von vielen Motiven dafür, dass er in die weite Welt hinausgeht. Ruhm und Geld sind ihm wichtig. Erst wenn er zu Reichtum und Ehre gelangt ist, will er zurückkehren, um dann noch die geliebte Frau zu erobern. Aus diesem Grund ist mir Fritz ein wenig suspekt. Bereits im ersten Akt sieht man aber auch, dass Grete viel mehr Eros hat. Sie ist viel mehr in der Lage, sich etwas Fremdem, Unbekanntem hinzugeben. Tatsächlich ist bereits in diesem frühem Stadium des Geschehens gar nicht so klar, ob der ferne Klang nur Fritz gehört, oder ob Grete ihn nicht ebenso stark vernimmt und zu ihrem eigenen Leitmotiv macht. Im Folgenden wird, wie gesagt, sehr viel stärker die Geschichte von Grete in den Vordergrund gestellt als diejenige von Fritz. Sie hat ja den längsten Weg durch das Stück. Sie beginnt als junges Mädchen, ist dann im zweiten Akt eine Kurtisane in Venedig und kommt dort sogar soweit, den geliebten Mann, auf den sie immer gewartet hat, zu verschmähen. Dann begegnet sie uns im dritten Akt noch einmal als alte Frau. Sie macht schon einen gewaltigen Weg durch. Ihr Aufgehen in gleich drei Frauen erinnert mich an die Stella in Offenbachs „Les contes d’ Hoffmann“. Der dritte Akt bezieht sich dann ganz auf Fritz. Auf einmal ist er der Komponist, der offenbar dieses Werk, das wir gerade gesehen haben, also den „Fernen Klang“, geschrieben hat. Da wird das Stück zu einer Art Spiegellabyrinth. Man weiß gar nicht mehr, in welcher Erzählebene man sich befindet.

(c) Hans Jörg Michel

OF: Warum, denken Sie, hat Schreker Fritz, dem er doch zuerst den fernen Klang zuordnet, im Gesamtgefüge der Handlung dann derart stiefmütterlich behandelt? Was mag ihn veranlasst haben, Grete ins Zentrum des Geschehens zu stellen?

G: Das Stück hat, wie gesagt, diesen Kippmoment im dritten Akt. Am Anfang hat man das Gefühl, dass sich Grete den Fritz erträumt. Und am Ende hat man rückwirkend das Gefühl, dass Fritz womöglich die Grete nur geträumt hat. Vielleicht gibt es auch gar keine Grete.

OF: Was ist der ferne Klang für Sie? Stellt er vielleicht ganz allgemein den Sinn des Lebens dar?

G: Ja, unbedingt! Darin liegen der Schlüssel und auch die Botschaft für das ganze Werk. Das, was in der Oper nur den beiden Hautfiguren als Lebensmotiv zugeordnet ist, können wir in Wahrheit viel weiter und auch als Botschaft für uns selbst auffassen. Genau darin besteht das menschliche Leben: Wir suchen uns Utopien und haben Visionen, die in unserem Leben die Funktion von kleinen Zielmarken haben, die wir vielleicht niemals erreichen werden. Gleichzeitig sind sie aber auch der Motor, der uns antreibt. So ein ferner Klang, eine Vision oder eine große Utopie kann oder soll sogar ein Motor für eine ganze Gesellschaft werden. Konkret auf unsere Zeit bezogen möchte ich sagen: Auch unsere heutige Europa-Politik benötigt solch einen fernen Klang.

OF: Wenn der ferne Klang als Sinn des Lebens zu verstehen ist, warum erschließt er sich Grete und Fritz dann erst im Tod?

G: Es ist durchaus nicht so, dass man seine Visionen immer zu hundert Prozent erreichen muss. Wenn man alles erreicht hat, was man sich vorgenommen hat, ist das Leben vorbei, da man sich dann ja nicht mehr auf die Suche nach Etwas begeben muss. Leben bedeutet, dass man wach und auf der Suche bleibt und versucht, seinem Ideal immer näher zu kommen.

OF: Sie lassen den ersten und den zweiten Akt am Stück durchspielen. Dann kommt erst die Pause. Und dann der dritte Akt mit seinen Rückblenden. Ist es nicht so, dass er den Ausgangspunkt des Ganzen bildet und die ersten beiden Aufzüge nur eine Erinnerung, eine Vision sind?

G: Ja, absolut! Erst ab der zweiten Hälfte des dritten Aktes begreift man so richtig, dass das Ganze eine große Vision von Fritz war, eine Erinnerung an diese Frau. Ähnlich  verhält es sich mit Offenbachs Hoffmann, der mit seiner Erzählung von drei verschiedenen Frauen ja auch immer nur Stella meint. Und im „Fernen Klang“ sind die Grenzen ebenfalls unklar und vieles verschwimmt traumhaft. Grete heißt mal Greta, mal Margaretha, mal Tini. Man weiß nie ganz genau, ob das immer dieselbe Frau ist, oder ob es sich doch um verschiedene Bilder nur einer Frau handelt, die sich aneinanderreihen und zusammensetzen. Das Stück hat einerseits ganz realistische, naturalistische Momente, andererseits aber auch sehr psychologische Augenblicke, arbeitet dann wieder mit einem starken Surrealismus und weist auch märchenhafte Elemente auf. Alle diese Aspekte werden erst im dritten Akt aufgelöst und zusammengefasst.

OF: Wie gesagt, es ist nicht immer eindeutig wer hier träumt. Die Träume von Grete un Fritz scheinen sich manchmal zu überlappen. Wo ziehen Sie die Schnittstelle zwischen ihren Visionen?

G: Im dritten Akt des „Fernen Klangs“ wird eine Oper von Fritz aufgeführt, die „Die Harfe“ heißt. In der Partitur gibt es einen Moment, wo dieses Werk von Fritz und Schrekers „Ferner Klang“ identische Schlussakkorde aufweisen. Das sind ganz die gleichen Noten. Genau an dieser Stelle überlagert sich dann natürlich auch inhaltlich etwas. Ab diesem Punkt wird die Erzählung zu etwas anderem.

(c) Hans Jörg Michel

OF: Wenn Grete im dritten Akt als alte Frau des ersten Aufzuges erscheint, ist das ein ganz zentraler Punkt in Ihrer Inszenierung. Was hat es mit dieser Identifikation auf sich?

G: Der Gedanke war, dass „die Alte“ eine Widergängerin Gretes ist, die schon im ersten Akt auf ihr Leben zurückblickt. Irgendwo ist diese alte Grete bereits in der jungen Grete angelegt. Es ist doch so, dass wir unsere späteren Ichs in jungen Jahren bereits in uns tragen, auch wenn sie noch nicht entwickelt sind. Wir tragen als Keim in uns, was wir später einmal sein werden, auch wenn dies erst später zum Vorschein kommt. Das Potential dessen, was aus uns werden kann und wohin unser Weg uns führt, liegt von Anfang an in uns. Es gibt viele so seltsame Widergänger in meiner Inszenierung.

OF: In der Tat arbeiten Sie viel mit Alter Egos, deuten nicht alle Personen real und legen den Fokus stark auf die innere Handlung. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Wirklichkeit und Surrealität?

G: Das Nebeneinander verschiedener Zeiten und die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem sind es, die mich in diesem Zusammenhang interessieren. Wir definieren uns sehr stark über unsere Erinnerungen. Wir könnten gar nicht wir selbst sein, wenn wir nicht auf dem aufbauen würden, was wir bereits erlebt, gesehen oder getan haben. Das alles macht uns aus. Das ist wie die Summe vieler Teile, die letztlich Identität schafft.

OF: Wie fügt sich Dr. Vigelius in diesen Zusammenhang ein?

G: Für mich ist er eine Parallelfigur zu der alten Frau. Beide haben eine seltsame Verbindung zueinander. Wir haben versucht, sie über ihre Kostüme zu definieren. Beide tragen eine Sonnenbrille und sind ähnlich gekleidet. Die alte Frau trägt ein schwarzes Kleid und Dr. Vigelius tritt in einer schwarzen Robe auf. Man weiß eigentlich gar nicht, ob es sich bei ihm überhaupt um eine positive Figur handelt. Mir scheint er eher ein Verwandter Lindorfs aus „Les contes d’ Hoffmann“ zu sein. Er ist auch so ein Schicksalsvorantreiber und hat viel von den Gestalten E.T. A. Hoffmanns an sich.

OF: Viele Sänger sind in Ihrer Inszenierung mit ein und demselben Sänger besetzt. Dieses Doppelgängerprinzip ist ausgesprochen interessant, da auf diese Weise vielfältige Analogien zwischen den betroffenen Personen hergesellt werden können. Wie verhält es sich mit diesen Pendants?

G: Wir rollen das Stück ja von hinten auf. Und da kann man auf den Gedanken kommen, dass Fritz, der seine Oper „Die Harfe“ geschrieben hat, sich für sein Werk aus der Realität Inspirationen geholt hat. Aus dieser Idee heraus haben wir beispielsweise Rudolf mit dem Wirt gleichgesetzt. Rudolf ist bei uns nicht gerade der gute Freund von Fritz, sondern ein Agent, dem an dem Werk mehr gelegen ist als an dem Künstler. Dieser Aspekt ist bereits bei Schreker angelegt. Rudolf kümmert sich wenig um die Gesundheit des Freundes und insistiert ständig, dass Fritz den dritten Akt doch endlich neu schreiben solle. Offenbar versucht er damit auch Profit zu erzielen, genau wie der Wirt, der ein ähnlich finanzkräftiger Charakter ist und ebenfalls Grete ein Geschäft vorschlägt. Bezeichnend ist, dass es in dem Werk immer wieder darum geht, dass man tiefere Werte wie Liebe oder Kunst gegen Geld eintauscht.

OF: Dann setzen Sie noch den Grafen mit Fritz gleich. Worin genau besteht diese Identifikation?

G: Im zweiten Akt sagt Grete dem Grafen, dass er sie stark an jemanden erinnern würde, den sie einmal kannte. Damit ist eindeutig Fritz gemeint. Essentielle Bedeutung kommt in diesem Kontext der Ballade des Grafen zu, in der er die Liebe als etwas Zerstörerisches beschwört, als etwas, an dem man nur leiden und schwer erkranken kann. Während der Graf alle anderen Zuschauer langweilt, fühlt sich Grete von ihm angezogen. Sie hat fast Angst davor, ihm zunahe zu kommen, weil irgendetwas an ihm sie sehr berührt. Sie hat offenbar auch Angst davor, Gefühle in ihn zu investieren. Auf eine romantischere Art und Weise scheint es sich bei ihm um eine  Weiterentwicklung von Fritz zu handeln. Er ist mit seiner Kunst nicht erfolgreich, aber er lässt Grete nicht gleichgültig.

OF: Womit wir bei der Psychoanalytik und Sigmund Freud angelangt wären. Inwieweit lassen Sie Freuds Lehren in Ihre Interpretation einfließen?

G: In dieser Oper winkt Freud um jede Ecke. Insbesondere seine „Traumdeutung“ spielt hier eine ganz zentrale Rolle. Im „Fernen Klang“ geht es viel um Träume - genauer: Angstträume. So ist es sehr aufschlussreich zu beobachten, wie Gretes frustriertes Liebesleben und -erleben im zweiten Akt geradezu pervertiert wird und sie sich, nachdem der von ihr begehrte Fritz ihre Liebe verschmäht hat, jetzt an jeden hingibt. Schon darin steckt eine ganze Menge Freud. Kleine Hinweise auf ihn haben wir auch in das Bühnenbild integriert. So gibt es in der Inszenierung eine Freud-Couch, auf der viel geträumt wird. Vieles an dem Stück erinnert mich zudem an „Alice im Wunderland“. Es hat den Anschein, als würde auch Grete durch so einen Hasenbau schlüpfen wie Alice und in unterschiedlichen Traum- und Alptraumwelten immer wieder in einer neuen Gestalt auftauchen. Und die Couch ist das Türchen dahin.

OF: Machen Freuds Lehren eine Inszenierung allgemein interessanter?

G: Jedenfalls war es für mich sehr bereichernd und erkenntnisreich zu ergründen, in welchem Umfeld sich Schreker im Jahre 1912 in Wien bewegt hat. Dazu gehörte indes nicht nur Freud, sondern beispielsweise auch Schnitzler und Wedekind. Allgemein lässt sich Ihre Frage aber mit einem Ja beantworten.

OF: Im zweiten Akt geht es ursprünglich sehr sinnlich zu. Warum haben Sie den erotischen Faktor hier so sehr heruntergeschraubt?

G: Es ist immer sehr schwierig, Erotik auf der Opernbühne gut zu verkaufen. Da muss man ganz genau die Grenzen ausloten. Mich hat in diesem Zusammenhang zuvorderst die Grenzüberschreitung interessiert. Wir haben hier Frauen, die schon Männerkleidung tragen, teilweise aber auch Männer in Frauenkleidung. Uns ging es darum deutlich zu machen, dass es sich um eine sehr libertäre Gesellschaft handelt, in der jeder alles darf, ungestört seine Phantasien ausleben kann und in der die Frauen, einschließlich Grete, erstaunlich selbstbestimmt leben. Ferner wollten wir aufzeigen, dass wir es hier mit einer Gemeinschaft zu tun haben, die ebenso gut aus der Zukunft stammen könnte. Es ist erstaunlich, dass sich Grete nicht an jeden verkaufen muss. Sie verdient mit ihrer Arbeit Geld, kann dabei aber wählen, wen sie haben will, sodass die Männer trotz allem in einem Gesangswettbewerb um sie kämpfen müssen. Auch hier ist übrigens eine Wagner-Parodie spürbar.

OF: Worin besteht die Quintessenz des Stückes?

G: Es ist in allerbestem Sinne alles das, was Oper kann und soll. Dieses Werk legt Widerspruch dagegen ein, dass wir als eindimensionale Konsumenten allein in einer konsumorientierten Realität unser Dasein fristen. Es stellt einen ganz großen Appell dar, unser inneres Erleben, unsere Träume, unsere Phantasie, unser Denken und unser Fühlen ernster zu nehmen. Womit wir wieder bei „Les contes d’ Hoffmann“ wären, wo es ja auch darum geht, Leben und Kunst unter einen Hut zu bringen. Mithin stellt sich die Frage, was wichtiger ist: das Leben, die Träume, die Kunst oder die Realität? Was macht uns als Menschen mehr aus? Als humane Gesamtwesen werden wir nicht nur durch die Wirklichkeit definiert oder durch das, was die Realität uns auferlegt. Unsere Träume, unser Denken, unser Empfinden prägen uns mindestens ebenso stark. Der „Ferne Klang“ stellt zudem eine Aufforderung an den Zuschauer dar, beim Ansehen der Oper oder allgemein beim Betrachten von Kunst wach zu bleiben und sich selbst Gedanken zu machen.

OF: Vielen Dank für das Interview

G: Auch ich bedanke mich herzlich

 

Das Interview führte Opernfreund-Kritiker Ludwig Steinbach, 5.8.2015

 

 

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