Cottbus: „Alcina“

Besuchte Aufführung am 14.04.15 (Premiere am 14.03.15)

Nachts im Kaufhaus

Wenn man in den Großstädten oder von den Produkten der Rundfunk- oder Phonoproduktionen an die neuen Händeleinspielungen oder -aufführungen gewöhnt ist, mit Alte-Musik-Ensembles und den Barockspezialisten verwöhnt ist, so ist es kommt man bei den Besuchen in der sogenannten "Provinz" auf dem Boden der Tatsachen an. So scheint es auf den ersten Höreindruck bei der neuen "Alcina" am Staatstheater Cottbus. Doch macht man sich von seinen etwas versnobten Vorstellungen frei, so erlebt man Erstaunliches: Ivo Henschel und das Philharmonische Orchester spielen ihren Händel ohne Spezialinstrumente, wenn man das notwendige Cembalo außer Acht lässt. Trotzdem wird mit Verve und Herzblut musiziert, manches Detail gerät in einen romantischen Sog, der heute vielleicht von Experten verpönt wird, doch Händels Musik lebt auch ohne große rekonstruierten Erkenntnisse, wenn sie mit Liebe gespielt wird, wie hier.

Auch die Besetzung kommt ganz aus dem Hausensemble und ohne Spezialisten aus, was vor allem bei der Besetzung des Ruggiero ohrenfällig wird, statt Countertenor oder Mezzosopran, singt in Cottbus Alexander Geller mit angenehm baritonal timbriertem Tenor den Heros in Liebesnetzen, die nötige Geschmeidigkeit besitzt der Sänger. Lediglich beim Hit "Verdi prati" und beim finalen Terzett vermisst man den spezifischen Klang oder im Ensemble eben eine Art Ausgewogenheit zwischen den Stimmen.

Grandios auf ihre eigene Art Laila Salome Fischer in der Titelpartie, die die menschlichen Zustände mit einer ganzen Palette an Farben ausstattete und die Zuhörer aufregend eine Fallstudie erleben ließ. da werden Puristen vielleicht auch mal das Näschen rümpfen, denn die Sopranistin wechselt von filigranen Acuti durch geläufige Koloraturgirlanden bis in leichte Verismo-Ansätze mit emotionalem Flackern, doch dient dabei alles stets der Darstellung des außerordentlichen Charakters der Figur. Debra Stanley als ihre Schwester Morgana mit substanzreichem Koloratursopran an ihrer Seite. Marlene Lichtenberg mit sinnlich, leicht körnigem Mezzo als Verlobte Bradamante in männlicher Travestie kam ebenfalls sehr beim Publikum an. Jeanette Wernecke komplettierte mit angemessen kindlichem Sopran die Damen als Oberto, der seinen Vater sucht.

Mattias Bleidorn würde ich von Haus aus eher als Buffo- oder Charaktertenor bezeichnen, doch kam er mit dem barocken Gesangsstil und der Affekt-Gestaltung sogar mit am besten zu recht. Seine letzte Arie , "Un contento", überraschte mit einer fulminant variierten Reprise des A-Teils der Arie, gesanglich ein echter Höhepunkt. Ingo Witzke machte als Melisso zwar "bella figura",überzeugte vor allem in den tiefen Partien seiner Rolle, doch die fahle Höhe und der opernhafte Gesangsstil, was hier im unangenehmen Sinne gemeint ist, schmälern die Leistung.

Der Chor erledigte seine Aufgaben im vokalen mehr als zufriedenstellend, die darstellerisch aufgewertete Aufgabe mit Begeisterung und Intensität, das Ballett unterstützte die Szene und gab der Geisterszene eine spukige Aufwertung.

Die Inszenierung des jungen Regisseurs Sam Brown versetzt die barocke Zauberinsel Alcinas ins England der Zwanziger Jahre. Der Palast ist ein von außen heruntergekommenes Kaufhaus namens "Elysium", im Innern ein Zaubertempel der zu erfüllenden Wünsche. Die Metapher scheint mir vom Sinngehalt durchaus noch mehr auszuschöpfen zu sein, doch die stringente Personenregie entfaltet ihre Wirkung. Großen Anteil daran hat die opulente Bühne von Simon Holdsworth, die sich durch Drehung des verrotteten Äußerenen in das luxuriöse Innere verwandelt, sehr schön durch Lichteffekte hervorgehoben. Dazu kommen die attraktiven Kostüme von Ilona Karas, zusammen eine echte Augenweide.

Die auf knappe drei Stunden zusammengekürzte Aufführung weiß ihre Zuschauer zu fesseln, zumal mit Leib und Seele musiziert wird: berechtigter großer Beifall mit einigen Bravo-Rufen.

Martin Freitag 19.4.15

Photos: Marlies Kross