Graz: „Der Barbier von Sevilla“

Premiere, 3. Juli 2015, Listhalle Graz

Zwiespältige Reminiszenz an die deutsche Erstaufführung

Die Grazer Listhalle ist kein Opernhaus – die diesjährige Opernproduktion der Styriarte wird daher von Regisseur Peter Boysen ausdrücklich als „szenisches Arrangement“ bezeichnet. In einem Interview erklärte er, wie die fünf kleinen Guckkastenbühnen, die er auf dem Konzertpodium aufbauen ließ, zu verstehen sind: die fünf Hauptpersonen sollen darin „einen eigenen Raum“, „sozusagen ihr Nest“ haben. Aber bevor ich auf dieses „szenische Arrangement“ näher eingehe, einige Worte zur Fassung, die man gewählt hatte:

Man entschied sich für jene Fassung, die in der Übersetzung des Grazers Ignaz Kollmann die erste deutschsprachige Aufführung des Rossini-Werks in Graz im Jahre 1819 erlebte. Graz war damals ein Zentrum der Rossini-Begeisterung. Immerhin brachte es der deutsche Barbier in Graz auf insgesamt 21 Aufführungen! Dieser Ignaz Kollmann ist eine kulturhistorisch durchaus interessante Persönlichkeit – es lohnt sich, sich hier näher über ihn zu informieren. Seine Übersetzung wurde bis ins 20.Jahrhundert praktisch an allen deutschsprachigen Bühnen verwendet. Nach dem Barbier gab es damals in Graz noch vier weitere Opern Rossinis, darunter die Cenerentola und den „Türken in Italien“. Übrigens war der Rossinische Figaro 1826 die Antrittsrolle von Johann Nestroy, der in seinem ersten Grazer Jahr 63 Opernrollen und 49 Sprechrollen verkörperte – unvorstellbar! Wer sich näher für die Graz-Bezüge interessiert, dem sei die Lektüre von Styriartes Festivalmagazin (Seiten 12- 15) empfohlen.

Ob dieser lokalhistorische Bezug allerdings ausreicht, um heute – nach jahrzehntelanger Erfahrung des Opernpublikums mit dem italienischen Original auf der Bühne und in den Audio-und Videomedien – eine Aufführung in deutscher Sprache zu rechtfertigen, das scheint mir mehr als zweifelhaft.

Allen Solisten ist jedenfalls größtes Bemühen um Textdeutlichkeit zu attestieren – dennoch: die Beliebtheit der Rossini-Buffa beruht seit bald 200 Jahren nicht auf dem Text, sondern auf den köstlichen Gesangsnummern – der musikalisch geradezu elektrisierende Auftritt des Figaro und die Kavatine der Rosina bestechen durch ihre sprühende Lebendigkeit und durch ihre virtuosen Gesangsanforderungen. Rossinis untrüglicher Sinn für Humor etwa in Basilios Verleumdungsarie oder in Bartolos großer Szene vermittelt sich unmittelbar aus der Musik und ihren grandiosen Steigerungen. Und diese Effekte eines in Achteln und Sechzehnteln dahinplappernden Rossini-Brios sind einfach im italienischen Originaltext besser und überzeugender zu gestalten als in der konsonantenreichen deutschen Sprache. Auf diese Schwierigkeit haben die Sänger im Video aus der Probenphase überzeugend hingewiesen. Und zu guter Letzt: trotz großen Bemühens blieb die Textverständlichkeit gering. Mein Résumé zur Frage Originalsprache versus Landessprache: der Arbeitsaufwand hat sich nicht gelohnt- ich habe den gerade bei Rossini unverzichtbaren italienischen Sprach-und Musikduktus schmerzlich vermisst. So bleibt diese Fassung für mich das, was die Verantwortlichen der Produktion eigentlich laut Programmheft vermeiden wollten: „ein Museumsstück“!

Dazu kommt, dass das „szenische Arrangement“ wenig überzeugend war. Es ist einfach keine Theater-Atmosphäre aufgekommen – es war weder die angekündigte gesellschaftskritische Ehegeschichte noch eine mitreissende Komödie. Die gesprochenen Dialoge wurden ungebührlich zerdehnt und ohne Charme „modernisiert“. Vor allem die Figur der Rosina hatte darunter zu leiden. Die von allen Männern umschwärmte „amabile Rosina“ wurde zu einem unvorteilhaft kostümierten, ruppig-uncharmanten Kunstwesen, das letztlich während der Gewittermusik das Hausinventar zertrümmern und einen geradezu Lucia-ähnlichen Wahnsinnsanfall mimen muss. Mit Recht meinte ein Besucher: „Warum muss die Rosina eine andere Figur spielen, als man in der Musik hört?“

Hingegen hatte die zu einer zentralen Figur aufgewertete Figur der Haushälterin Marzelline (in manchen Fassungen und auch in der gedruckten Fassung der Kollmann-Übersetzung auch Bertha genannt ) genügend Charme zu zeigen – sie stellte noch vor der Ouvertüre die handelnden Personen vor und ist dann aus unerfindlichen Gründen praktisch das ganze Stück hindurch auf der Bühne. Diese Mezzo- bzw. Spielalt-Rolle ist in dieser Produktion mit dem Sopran Bibiana Nwobilo besetzt, die ihre einzige Arie und die Ensemble-Passagen mit Anstand bewältigt. Noch ein Detail des szenischen Arrangements, das ich geradezu störend empfand: als „Hintergrundmusik“ war während der gesprochenen Dialoge unentwegt (leise und gleichsam als Muzak-Kaufhaus-Sound) der allegro con brio-Auftakt aus der Ouvertüre zu hören. Zuerst dachte ich an eine Panne, etwa an eine ungewollte Rückkoppelung der Tonanlage, bis ich die Absicht (nicht aber den Sinn dahinter) erkannte. Und wenn man laut Programmheft mit dieser Produktion in Anspruch nehmen will, auf „ein ganzes Arsenal von Geschmacklosigkeiten, die sich von Generation zu Generation fortgepflanzt haben“ verzichten und „die grobsten Buffa-Klischees ausmerzen“ zu wollen, dann weiß ich nicht, ob die neu eingeführten Scherze geistvoller sind – etwa der Auftritt des als Soldat verkleideten Grafen im Wiener Dialekt oder die Ersetzung von Rosinas Einlagearie durch Adeles „Spiel ich die Unschuld vom Lande“ aus der Fledermaus oder wenn Bartolo bei „Aug und Ohr“ demonstrativ verkehrt auf seine Sinnesorgane weist oder der schon erwähnte Wahnsinnsanfall der Rosina oder, oder, oder…… Ich fand das „szenische Arrangement“ weder lustig noch vermochte ich die angekündigte „scharf geschliffene Gesellschaftskomödie“ zu erkennen.

Gott sei Dank gibt es Erfreuliches über das junge Solistenteam zu berichten. Da war einmal die Rosina von Marie Friederike Schöder , die mit blitzsauberem Koloratursopran stimmlich überzeugte und die Ensembles strahlend anführte – da verzeiht mir ihr auch die kleine Panne im finalen Quartett. Der kroatische Bariton Miljenko Turk hat nach seinem Studium in Graz eine schöne internationale Karriere gemacht – er war ein wendig-durchtriebener Figaro mit schlanker, aber stets präsenter und gut geführter Stimme. Man kennt ihn schon aus seinen Auftritten in der Wiener Volksoper. Die Stimme des Almaviva Daniel Johannsen, der aus dem Oratorienfach kommt, ist für die Opernbühne wohl allzu schlank – italienische Belcanto-Spezialisten würden wohl sagen: „senza appoggio“. Ihm gelang die erste Arie „Sieh, schon die Morgenröte“ mit schönen Piani und sauberen Koloraturen ausgezeichnet. In den großen Ensembles ging er allerdings unter und es war klug, ihm die große Arie im letzten Akt zu ersparen. An den legendären Fritz Wunderlich durfte man natürlich nicht denken. Die deutsch gesungene Barbier-Live-Aufnahme (mit Erika Köth, Hermann Prey und Hans Hotter) aus dem Jahre 1959 ist heute noch erhältlich – zu Recht weist die Styriarte- Homepage auf sie hin. Hier kann man nachhören, wie Fritz Wunderlich die Auftrittskavatine mit einem strahlenden C krönt.

Josef Wagner war ein solider, wenn auch ein wenig profilarmer Basilio mit schön timbrierter, zum Bariton tendierender Stimme und Stefan Sevenich gab einen saftig-deftigen Bartolo, den man bedauerte, dass er sich im Allegro vivace-Schlussteil seiner Arie mit dem deutschen Text abmühen musste – dies umso mehr, als man hier (in La Cenerentola) nachhören kann, wie gut Sevenich Rossini auf Italienisch singen kann. Ludwig Mittelhammer war ein sicherer Fiorillo und es bewährten sich die Herren des KUG-Konzertchors mit dem stimmkräftigen Martin Summer als Offizier an der Spitze. Das styriarte- Festspielorchester unter seinem Chefdirigenten Michael Hofstetter bemühte sich um ein authentisches Klangbild des 19.Jahrhunderts. Die Streicher spielten auf Darmsaiten – das Blech verwendete Naturinstrumente. Da gelangen viele schöne klangliche Details – vor allem bei den Holzbläsern (die auf modernen Instrumenten spielten). Allerdings verlor sich meiner Meinung nach der Dirigent allzu oft in – liebevoll ausgedeutete – Details und unterbrach damit den bei Rossini so wichtigen stringenten und stets vorwärtsdrängenden Zug. Und bei den großen Ensembles dominierte so manches Mal das Orchester über die schlanken Stimmen der Solisten.

Das Premierenpublikum hat die Produktion sehr freundlich und mit viel Beifall aufgenommen.

Hermann Becke, 5.7.2015

Fotos: Styriarte, Werner Kmetitsch

Ein anregendes Video (rund vier Minuten), mit dem man einen guten Eindruck der Produktion bekommt, findet sich hier