Graz: „Fidelio“

14. Juli 2018, Helmut-List-Halle

Heute so bewegend-aktuell wie vor 200 Jahren!

Thomas Höft ist seit 24 Jahren ein entscheidender Mitgestalter der Styriarte – als Dramaturg, Autor, Regisseur und Moderator. Ich habe ihn speziell in seiner Funktion als Moderator sehr oft wegen eines gewissen Hangs zu manieriert-übersteigerter Selbstdarstellung kritisiert. Diesmal ist ihm – und damit der styriarte – allerdings uneingeschränkt zu gratulieren: Mit dieser Fidelio-Produktion ist nämlich zweifellos ein Stück beeindruckenden und packenden zeitgemäßen Musiktheaters gelungen! Lassen wir Thomas Höft zu seinem Konzept selbst zu Worte kommen. Er schreibt u. a. im (wie immer bei der styriarte sehr lesenswerten und auch online verfügbaren) Programmheft :

Wenn man heute „Fidelio“ spielen möchte, braucht es keine
künstliche Aktualisierung, Die Gegenwart ist immer schon da, liegt
sozusagen offen vor uns….Die entscheidende Frage: in welchem Thema, das uns heute alle angeht und das die gesellschaftliche Diskussion bestimmt, spielen die Fragen nach Freiheit und Hoffnung die entscheidende Rolle? Die Antwort braucht man gewisslich nicht lange suchen. Die Debatten über Flucht und Vertreibung, über Asyl und Abschottung prägen die politische Diskussion seit längerem und sind inzwischen verantwortlich für eine Spaltung des gesellschaftlichen Konsenses, für die Vergiftung des Diskurses und für radikale Wahlentscheidungen in vielen Ländern Europas. Meine Überlegung war: Könnte es nicht sein, dass unter den vielen Menschen, die sich in Österreich in Sicherheit bringen konnten, auch solche sind, die das, was Beethoven in „Fidelio“ schildert, am eigenen Leib erfahren haben? Und wären die vielleicht sogar bereit, uns davon zu erzählen? So hat sich die styriarte auf die Suche gemacht und hat mit Menschen und Institutionen gesprochen, die in der Steiermark Flüchtlingen helfen und sie betreuen. Dabei haben wir Menschen kennengelernt, die uns alle, die an den Vorbereitungen beteiligt waren, tief bewegt und beeindruckt haben.

Thomas Höft entwickelte aus diesem Grundgedanken heraus ein schlüssiges und überzeugendes Konzept:

Sämtliche Dialoge wurden gestrichen und durch die Stimme eines Erzählers aus dem Off ersetzt, die knapp den Fortgang der Fidelio-Handlung schilderte. Diesen Erzähler-Text verfasste und sprach Thomas Höft selbst – klar und angenehm sachlich. Zwischen den einzelnen Nummern der Oper wurden dann zusätzlich insgesamt sieben Interviews eingebaut, die thematisch dazu passten. Das sah z. B. Im ersten Akt so aus:

Nr. 3,Quartett Marzelline, Leonore, Rocco, Jaquino: Mir ist so wunderbar

Video-Einspielung Jemshed und Anita aus Afghanistan

Nr. 4, Arie Rocco Hat man nicht auch Gold beineben

Sowohl der Erzähltext als auch die Video-Einspielungen waren so einfühlsam in den Ablauf des Abends eingebaut, dass nie die Gefahr bestand, dadurch den musikalischen Gesamtbogen zu stören.

Das szenische Konzept passte ideal zur gegebenen Raumsituation: die Helmut-List-Halle ist ein Konzertsaal und keine Opernbühne.

Dieses Manko wurde geschickt genutzt. Die handelnden Personen agierten auf dem Podium – zwischen dem Chor, der den ganzen Abend durchgehend auf der Bühne war, und dem davor sitzenden Orchester bzw. den unmittelbar daran anschließenden Publikumsreihen. Chor, Orchester, Solisten und Dirigent waren alle in jeansblauer Kleidung (Kostüme: Lilli Hartmann), ohne dass dies zwanghaft uniformiert wirkte. Dadurch wurde für mich sehr stark und überzeugend der Eindruck vermittelt, dass sich das Schicksal von Leonore und Florestan „unter uns“ abspielt – es sind menschliche Einzelschicksale, die es immer wieder gab und auch heute gibt.

Ein zentraler und entscheidender Pluspunkt der Produktion ist zweifellos der 40-jährige kolumbianische Dirigent Andrés Orozco-Estrada . Er ist inzwischen nicht nur weltweit gefragt, sondern auch in besonderem Maße mit Graz verbunden. Zu Beginn seiner Karriere war er nämlich von 2005 bis 2009 Chefdirigent des Grazers Orchesters recreation – es bildet den Kern des diesmal spielenden styriarte-Festspielorchesters – , und nach dem Tode von Nikolaus Harnoncourt übernahm er am Pult des Concentus Musicus Wien Beethovens Neunte bei der styriarte 2016. Man weiß, dass ihm dieses Fidelio-Projekt besonders am Herzen lag und dass er auch in dessen szenische Gestaltung eingebunden war. Als Südamerikaner weiß er sehr gut Bescheid über Diktaturen, über Bestechlichkeit und über Entführung und Einkerkerung von Menschen. Er leitete die Aufführung mit großer Konzentration, nie nachlassender Spannung und dem ihm eigenen Temperament. Da war jede musikalische Feinheit präzise herausgearbeitet, die Tempi waren straff, aber nie gehetzt – und auch die lyrischen Ruhepunkte wurden wunderbar ausmusiziert. Unter seiner Leitung ist das Orchester geradezu über sich hinausgewachsen und bewältigte auch die heiklen Solostellen ausgezeichnet. In einem jüngst in Wien erschienenen großen Zeitungsinterview sagte Orozco-Estrada: Ich dirigiere um mein Leben. Dafür bin ich da. Diese Intensität übertrug sich an diesem Abend auf alle: auf Orchester, Chor, Solisten und Publikum – es war ein überaus intensiver und bewegender Abend.

Das Solistenteam gestaltete seine Partien mit merkbarer innerer Beteiligung. Johanna Winkel ließ sich zwar wegen Indisposition entschuldigen, war aber dennoch eine ausgezeichnete Leonore mit schlanker Stimmführung und überzeugender Ausstrahlung. Tetiana Miyus war eine exzellente Besetzung für die Marzelline, Thomas Stimmel ein Rocco mit großer Wortdeutlichkeit und lyrischer, ein wenig einförmiger, nicht allzu großer Bassstimme. Jochen Kupfer (Pizarro) dominierte mit großem Stimmvolumen die Szene und man verzieh ihm dank seiner Intensität den verfrühten Einsatz im Quartett des 4. Aktes.

Schwächer leider die beiden Tenöre: Jan Petryka war ein stimmlich recht blasser Jacquino, der auch den Part des 1. Gefangenen übernahm und Johannes Chum war an diesem Abend mit dem Florestan schlichtweg überfordert. Am Ende seiner Arie flüchtete er sich bei der gefürchteten Stelle führt mich zur Freiheit in’s himmlische Reich ins Falsett und er hatte seine seit Jahren bekannte und geschätzte Wortdeutlichkeit zugunsten von Vokalverfärbungen (zur Stimmvergrößerung?) aufgegeben. Schade – er sollte weiterhin beim Jacquino bleiben, wie zuletzt im Theater an der Wien und in Paris. Als Don Fernando war Adrian Eröd eine Klasse für sich. Mit seiner stimmlichen und darstellerischen Autorität zeichnete er großartig die Zwiespältigkeit dieser Ministerfigur. Franz M. Herzog hatte den aus 14 Nationen zusammengesetzten und eigens für diese Aufführung gebildeten Fidelio-Chor ausgezeichnet vorbereitet. Der Laienchor im Alter zwischen 17 und 70 Jahren, darunter auch einige sangesfreudige Migrantinnen und Migranten, war mit großer Begeisterung und beachtlichem Niveau bei der Sache.

Am Ende gab es große Begeisterung und Bravorufe des Publikums – vor allem für Johanna Winkel, Tetiana Miyus und Adrian Eröd. Man hatte den Eindruck: Beethovens Botschaft in aktuellem Gewande war angekommen – das Publikum verließ begeistert, aber gleichzeitig bewegt und nachdenklich die Aufführung. Der styriarte und allen Ausführenden ist für eine außergewöhnliche Produktion zu danken!

Hermann Becke, 15. 7. 2018

Fotos: Styriarte, © Werner Kmetitsch

Hinweise:

– Durch den zweiminütigen TV-Bericht bekommt man einen guten Eindruck, was mit dieser Produktion angestrebt wird

– Und letztlich sei, angeregt durch diese vorbildliche Fidelio-Gestaltung, auf ein seit zwei Jahren in Graz bestehendes flüchtlingspädagogisches Projekt hingewiesen, das unter dem Motto Keine Bildung ohne Kunst aktives Kunstausüben – darunter auch Singen! – in die Bildung der Halbwüchsigen zentral einbezieht. Ganz nach dem Nietzsche-Wort: Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. Wer sich für dieses Projekt, dem die Schulaufsicht „Vorbildcharakter“ bescheinigt, interessiert, findet hier weiterführende Informationen.