Heidelberg: „Der Freischütz“

Besuchte Aufführung: 14.5.2017 (Premiere: 31.3.2017)

Sozialstudie und Psychogramm

Im Programmheft der neuen Heidelberger Freischütz-Produktion ist zu lesen, „diese Oper sei einfach nur schön und geradezu der Inbegriff deutscher Gemütlichkeit“. Unter dieser Voraussetzung kann man nur schwer nachvollziehen, warum der „Freischütz“ heutzutage noch aufgeführt gehört. Die Zeiten haben sich geändert, heute werden andere Anforderungen an eine gelungene Inszenierung gestellt. Demgemäß misstraut Regisseurin Sandra Leupold dieser Aussage auch rigoros und erklärt sie demgemäß auch umgehend als „noch falscher als früher auch schon“. Gar keine Frage, dass sie damit recht hat. Konsequenterweise bewegt sich ihre Regiearbeit auch nicht in ausgetretenen konventionellen Pfaden, sondern wartet mit einer geschickten Modernisierung auf.

Alexander Geller (Max), Chor

Ihre von einer ausgefeilten, stringenten Personenregie geprägte Produktion ist eine gelungene Mischung aus scharfer Gesellschaftskritik und einem tiefschürfenden Psychogramm des Jägerburschen Max. Dass die Regisseurin die Handlung in die Entstehungszeit des Werkes nach den Napoleonischen Befreiungskriegen verlegt hat, erschließt sich dem Zuschauer nur an Jessica Rockstroh s biedermeierlich geprägten Kostümen. Das Bühnenbild von Stefan Heinrichs lässt eine konkrete zeitliche Einordnung dagegen nicht zu. Der Raum ist dunkel und leer, wirkt nüchtern und kahl. Nachhaltig wird er in das Spiel mit einbezogen und mutiert gleichsam zum Mitspieler. Von der Decke hängen verschiedene Acessoires und Versatzstücke wie das Bild des Urahnen Kuno, eine Uhr, Agathes Brautkleid, ein Hirschgeweih, ein Pilz, ein Jägerhut, eine Adleratrappe, eine Kerze, eine Baumsäge und ein Blumenstrauß herunter. Ansonsten ist der Raum leer, sodass nichts von dem dramatischen Geschehen ablenkt.

Alexander Geller (Max), James Homann (Kaspar), AP Zahner (Samiel)

Es ist eine alles andere als heile, sondern eine in höchstem Maße kaputte Welt, die Frau Leupold hier vorführt. Es geht um Macht, ihr Ausleben und die Unterordnung unter ein patriarchalisch geprägtes System. Die vom leiblichen Vater über den Landesvater bis hin zum himmlischen Vater reichende Subordination lässt die obrigkeitshörige Gesellschaft roh und gewalttätig werden. Wenn sie zu Beginn an dem beim Probeschießen erfolglosen Max vorbeidefiliert und ihn nach allen Regeln der Kunst Spießruten laufen lässt, ihn bespuckt, schlägt und ihm die Ohren lang zieht, wird dieser Aspekt nur allzu deutlich. Mit harmloser Hänselei hat das nichts mehr zu tun, sondern ist Ausfluss von totaler Rohheit und Boshaftigkeit. Man merkt, Außenseiter wie Max haben in dieser Gemeinschaft keine Chance. Gnadenlos werden sie ausgegrenzt und schikaniert. Die soziale Hackordnung des Buckelns nach oben und Tretens nach unten wird hier genau befolgt. Von einer herkömmlichen Idylle irgendwelcher Art kann überhaupt keine Rede mehr sein. Der Teufel ist in diesem Ambiente nichts Äußerliches mehr, sondern steckt im Menschen selbst drin. Hier haben wir es mit einer ausgeprägten Sozialstudie zu tun, die packt und ergreift.

Hye-Sung Na (Agathe), James Homann (Kaspar), AP Zahner (Samiel)

Max wird von der Regisseurin auf eine Stufe mit Wozzeck gestellt. Gleich diesem ist er, wie bereits erwähnt, starken Querelen und Schikanen seitens seiner Umwelt ausgesetzt. Angesichts der ihn treffenden krassen Anfeindungen bekommt man regelrecht Mitleid mit ihm. Dem jungen Mann wird der Boden unter den Füßen weggezogen, er findet keinen Halt mehr und stürzt innerlich ab. Er ist nicht mehr er selbst, sondern ein Opfer der Gewalt, das sich nicht länger wehren kann und demzufolge den Einflüsterungen des bösen Kaspar nur umso stärker erliegen muss. Das Böse ist in Gestalt des mit schwarzem Anzug, Brille, Hut und weißer Schürze auftretenden schwarzen Jägers Samiel stets präsent. Die Wolfsschlucht wird von Sandra Leupold nicht äußerlich gedeutet, sondern psychologisch. Diese Szene erscheint als innerer Ausfluss des schlimmsten Verbrechens, das ein Mensch begehen kann, nämlich des Mordes an einem anderen Menschen. So erklärt sich das Menschenopfer, das die bis auf die Unterhose entkleideten und blutbeschmierten Jäger Kaspar und Max in dem einen enormen Kraftakt darstellenden Wolfsschluchtsbild vollziehen. Bei seinem Geständnis vor dem anscheinend einem Gemälde von Spitzweg entsprungenen jungen Fürsten Ottokar mit Regenschirmbegleiter entkleidet sich Max aufs Neue als Ausdruck seiner Reue. Die Intervention des Eremiten hat nicht wirklich Erfolg. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden sich am Ende nicht zum Guten wenden. Die Entwicklung der Gesellschaft stagniert. Außenseiter werden es auch künftig schwer haben. Das war alles recht überzeugend und sehr präzise und spannungsreich umgesetzt.

James Homann (Kaspar), Alexander Geller (Max), Christian Scholl (Statist)

Darstellerisch ging Alexander Geller voll in der Rolle des Max auf. Sein von großer Intensität geprägtes Spiel war einfach großartig. Rein schauspielerisch gelang ihm ein sehr einnehmendes Rollenportrait des geschundenen, unter seiner Umwelt leidenden Jägerburschen. Gesanglich setzte er nicht auf heldentenorale Kraftmeierei, sonder näherte sich der Rolle in starkem Maße von der lyrischen Seite her. Linienführung und nuancierter Ausdruck waren durchaus ansprechend. Insbesondere an den dramatischen Stellen wurde aber offenkundig, dass seinem an sich angenehmen Tenor dennoch – noch – das letzte Quantum an solider Körperstütze fehlte. Eine wunderbare, sehr zierliche Agathe war Hye-Sung Na. Bei dieser jungen Sängerin bestachen in erster Linie die herrliche Klarheit und lyrische Emphase ihres gut fokussierten lyrischen Soprans und die hohe Ausdrucksintensität ihres differenzierten Vortrags. Gut gefiel Irina Simmes als quicklebendiges, herzerfrischendes und mit bestens gestütztem Sopran perfekt singendes Ännchen. Hier kündigt sich bereits eine gute Agathe an. An diesem Abend hätte man sich die Försterstochter und deren junge Verwandte auch mit der jeweils anderen Sängerin gut vorstellen können. Obwohl er sich zu Beginn wegen einer Erkältung entschuldigen ließ, konnte James Homann in der Partie des Kaspar mit sauber ansprechendem robustem Bariton und einprägsamem Spiel trefflich überzeugen. Sonores Bassmaterial brachte Wilfried Staber für den Eremiten mit. Einen feinen, tadellos gestützten Bariton mit imposantem hohem ‚gis“ nannte der Ottokar von Zachary Wilson sein eigen. Solide schnitt Philipp Stelz’ Kilian ab. Von der schauspielerischen Seite her recht ironisch gezeichnet, gesanglich mit halsigem Bass nicht sehr überzeugend, gab David Otto den Kuno. Bei den Brautjungefern von Ulrike Machill, Elena Trobisch, Claudia Schumacher und Bomi Lee hielten sich Positiva und Negativa die Waage. In der Sprechrolle des Samiel machte AP Zahner einen gefälligen Eindruck. Die beiden fürstlichen Jäger gaben Adrien Mechler und David Daniel Reem. Auf hohem Niveau bewegten sich der von Ines Kaun einstudierte Chor und Extrachor des Theaters und Orchesters Heidelberg.

Irina Simmes (Ännchen), Hye-Sung Na (Agathe), Brautjungfern

Im Graben setzte Davide Perniceni zusammen mit dem blendend aufgelegten Philharmonischen Orchester Heidelberg auf einen insgesamt recht kammermusikalisch anmutenden, transparenten, von schönen Zwischentönen geprägten und sehr sängerfreundlichen Klang.

Fazit: Ein imposanter, bewegender Abend, der die Fahrt nach Heidelberg wieder einmal gelohnt hat.

Ludwig Steinbach, 15.5.2017

Die Bilder stammen von Annemone Taake