Heidelberg: „Pelléas et Mélisande“

Premiere 04.11.2012

Fioronis neue Regie-Schandtat – Mélisande als Schwanenprinzessin, Pelléas als schwarzer Ritter – zum Schluss geht alles in Flammen auf

Debussys einzige Oper wurde 1902 in Paris an der Opéra Comique (!) uraufgeführt. Etwa 40 Jahre nach Wagners Tristan bedeutete dieses Werk einen neuen Markstein in der Operngeschichte; in Frankreich läutete es das Ende der romantischen Epoche ein; dabei beruht es paradoxaler Weise ebenso auf dem Einfluss des Übervaters Wagner wie auf dem Versuch, dessen langem Schatten zu entkommen. Es ist die erste im Repertoire gebliebene französische Oper nach der klassischen Zeit, mit der Rousseaus Behauptung, die französische Sprache sei nicht operntauglich, widerlegt wurde: Denn hier ist die Sprache Musik und die Musik Sprache. Was Wunder, dass der Komponist für seine Musik selber das Libretto aus der Vorlage sublimiert hat, aus dem gleichnamigen Märchenstück des belgischen Symbolisten und Nobelpreisträgers Maurice Maeterlinck über die totgeweihte Liebe der Titelfiguren (1893). Es ist ein rätselhaftes, feinsinniges Stück des belgischen Dichters, für das Debussy die kongeniale Musik gefunden hat. Und weil es so nahe an der literarischen Vorlage bleibt, steht es heute viel häufiger auf den Spielplänen der Oper als auf denen des Schauspiels. Wie übrigens auch andere Stücke der Epoche (Salome, Elektra), deren literarischer Wert unter der Veroperung nicht gelitten hat. Somit kommt es bei einer Inszenierung der Oper gleichermaßen auf die Würdigung der literarischen Vorlage an.

Wenn man in eine Inszenierung des notorischen Stückezertrümmerers Lorenzo Fioroni geht, erwartet man keinen Brunnen und keinen Wald, wo der Jäger Golaud auf die verlassene Mélisande trifft. Man erwartet kein düsteres Schloss, in welchem Mélisande ihrem Gefühl Ausdruck verleiht: „Je ne suis pas heureuse“. Man lässt sich also überraschen. Überrascht wird man dann mit einer neuen Schandtat des Regisseurs, der sich überhaupt um die Vorlage Materlinck/Debussy schert, sondern dem Stück Ideen überstülpt, die ihm wohl zuvor irgendwelche Träume eingegeben haben. Er beachtet wohl die musikalische Struktur der Oper, kehrt in weniger wichtigen Details sogar manchmal quasi parodistisch erstaunlich nahe zum Text zurück, gegen den er allerdings vom ersten Moment an frontal losinszeniert.

Annika Sophie Ritlewski (Mélisande), Angus Wood (Pelléas)

Ralf Käselaus erfindungsreiches Einheitsbühnenbild (mit verschiedenen Räumen, Vorhängen und Spiegeln sehr mehrfachgegliedert) führt den Zuschauer in ein nicht mehr ganz frisches Ballett-Atelier, wohl eine Ballettschule, wo für Schwanensee (Le Lac des Cygnes) geprobt wird. Die verzauberte Schwanenprinzessin ist Mélisande, die Golaud nicht im Wald an einem Brunnen, sondern als Eindringling in schwarzem Wintermantel (Kostüme: Annette Braun) im Studio entdeckt. So braucht er sie gar nicht mit heim zu nehmen. Er zieht sie gleich um und hüllt sie in weißen Tüll. Von nun an kann sie nur durch wahre Liebe aus dem Bann des bösen Zauberers befreit werden. Diese Liebe entwickelt sich zwischen ihr und Golauds Halbbruder Pelléas, der nicht bei der Balletttruppe mitwirkt. Was Golaud anscheinend nicht wirklich interessiert (ist der vielleicht schwul?), geschieht seinem Bruder: er verliebt sich in Mélisande und geht ihr richtig an die Wäsche. Zum Schluss gibt es daher auch ein (frühgeborenes) Baby. Interessierte können weiter bei Maeterlinck/Debussy und Begitschew/Tschaikowsky nachlesen, um den von Fioroni entdeckten und von der Dramaturgin Julia Hochstenbach sanktionierten Parallelen nachzugehen.

Ipča Ramanović (Golaud)

Hier und da lehnen Hochstenbach und Fioroni ihre Geschichte sogar an Geschehnisse des Originals an. Auf der Bühne ist alle fünf Akte und 15 Bilder lang ein Schild aufgestellt „Les Aveugles“. Sinn bekommt das im zweiten Akt am Brunnen der Blinden. Den sieht man zwar nicht, aber Pelléas und Mélisande bespritzen sich aus Plastikflaschen mit Wasser, ein Brunnen eben… Golauds Ring fällt in einen blechernen Wassereimer. Die beiden wollen ihn da nicht wieder herausholen. Golaud, an sich bei seinen Jagdvergnügen vom Pferd gestürzt, verletzt sich in der vorliegenden Version durch Stürze beim Balletttanz. Der Zusammenhang zwischen den von einem Digitalprojektor auf Wand, Vorhang oder Leinwand geworfenen Bildern und dem Geschehen besteht ist dagegen schon recht hergeholt. Wenn Golaud seinen Sohn Yniold berichten lässt, was er im Schlafzimmer der Mélisande sieht, werden auch Dias gezeigt – in immer schnellerer bis rasender Reihenfolge. Aber des Yniold hätte es für diese Szene gar nicht bedurft; Golaud konnte das ja alles selber sehen. Mélisandes Klage über die Düsternis des Schlosses passt nicht so recht zu dem hell erleuchteten Tanzstudio. Vielleich ist aber hier die Düsternis der Seelen des Schlossbevölkerung (Studio-Betreiber) gemeint.

Annika Sophie Ritlewski (Mélisande), Angus Wood (Pelléas)

Golaud ist gewalttätig gezeichnet. Pelléas kein schwärmerischer Weichling, sondern ein Feigling, der sich von seinem Bruder bedrohen lässt. Merkwürdigerweise ist er durchgängig in Schwarz gekleidet. Dem Golaud sind schwarze Flügel über die Augenhöhlen gemalt; er tritt entweder in einem weißen Trainingsanzug mit hochhackigen Schuhe oder in einem Ballettkleidchen für Mädchen auf. Arkel ist ein verblödeter Familienpatriarch, der nicht ohne ein großes weißes Plüschtier auskommt, natürlich ein Schwan. Da auch er der Mélisande an die Wäsche will und die Situation in der Ballettschule immer unerträglicher wird, stellt man zu Gespräch und Selbstfindung einen Stuhlkreis auf. Aber die Situation entartet sofort in Gewalt, bei welcher der Pelléas zusieht, wie sein Bruder Golaud Mélisande brutal misshandelt. Arkel und Geneviève scheint das sehr zu amüsieren. Hätte doch nur Pelléas am Anfang des Stücks seinen Plan wahrgemacht, zu seinem Freund zu reisen, wäre das ganze Unglück nicht geschehen. So aber nimmt es seinen Lauf: Golaud erschießt seinen Bruder, setzt das Haus in Flammen und die völlig in Brandverbandsstoff eingepackte Mélisande stirbt. Zum Zeichen, dass Golaud der Mörder seiner Frau ist, lässt ihn die Regie gerade zum deren Todeszeitpunkt die letzte Kerze auf einem festlich gedeckten Tisch löschen, an dem sich diese schöne Familie im rauchgeschwängerten Hause zu einem makabren Mahl getroffen hatte. Nun sei bedankt, mein lieber Schwan…

Ipča Ramanović (Golaud); hinten: Annika Sophie Ritlewski (Mélisande)

Vieles bleibt deutungsbedürftig. Aber soll man sich die Mühe machen, etwas zu deuten, was mit dem Stück nur über drei Ecken verwandt ist? Wer Pelléas und Mélisande vorher noch nicht gekannt hat, kennt es auch danach nicht, hat aber einen interessanten Abend mit vielen Überraschungen erlebt. Allerdings stellt sich die Frage des Mehrwerts eines solchen Niederrisses gegenüber dem ja nicht ganz unmöglichen Versuch, das Werk als solches ernst zu nehmen und die Tiefen des Seelendramas zu beleuchten, wie es z.B. Claus Guth in seiner preisgekrönten Inszenierung in Frankfurt 2012 gelungen ist. Im Programmheft gibt es wie üblich eine Zusammenfassung der Handlung. Im vorliegenden Falle hätte man durchaus auch das etwas konkreter zusammenfassen können, was tatsächlich auf der Bühne zu sehen ist – und vielleicht sogar eine Begründung für den Abriss des Werks in der Originalfassung geben können.

Wenn man sich neben der Befassung mit dem Bühnengeschehen noch dem musikalischen Geschehen zuwenden konnte, dann kam man an diesem Premierenabend in Heidelberg voll auf seine Kosten. Obwohl man in Pelléas etwa zweieinhalb Stunden die gleiche schwebende Musik hört, ermüdet man in keiner Weise. Yordan Kamdzhalov entlockte dem nahezu perfekt aufspielenden Philharmonischen Orchester Heidelberg genau die Farben, die in der raffinierten Mischinstrumentation so typisch für die Partitur sind. Er legte es dabei gar nicht einmal so auf das transzendentale Flirren der Klangimpressionen an, sondern erzeugte ein recht geerdetes und etwas strengeres Klangbild, aber nicht so konkret, dass die nebelartige Mystifizierungswirkung der Musik beseitigt würde.

vorne: Annika Sophie Ritlewski (Mélisande); hinten: Ks. Carolyn Frank (Geneviève), Statisterie des Theaters und Orchesters Heidelberg

Das Theater bot ein wahrlich internationales Solistenensemble auf; nicht zwei der Hauptrollen hatten die gleiche Nationalität! Fast alle konnten aus dem eigenen Ensemble besetzen. Cum grano salis gilt das auch für Annika Sophie Ritlewski, die eine bewundernswerte Mélisande gab. Sehr einnehmend von ihrer Bühnenpräsenz konnte sie zwar mit ihrer Körpergröße, an die ihre Kollegen nur knapp heranreichten, nicht das ganz zarte zerbrechliche Pflänzchen in der Titelrolle spielen, aber in den angedeuteten Ballettszenen konnte es ihr an Anmut niemand gleichtun. Stimmlich überzeugte sie mit ihrem farblichen Nuancierungsvermögen, einem runden dunklen Parlando in ihrer Mittellage sowie mit silbrig beweglichen und klaren Tönen in hoch gelegenen Passagen. Der Pelléas wurde in dieser Aufführung von einem Tenor gesungen; Angus Wood interpretierte die Rolle mit schön baritonal eingefärbter kraftvoller Stimme mit guter Höhensicherheit. Ipča Ramanović gab den Golaud mit der Rolle angemessenen kernig-hartem Bariton, aber recht hellen Höhen. Mit Wilfried Staber stand für den (König!) Arkel ein prächtig strömender voluminöser Bass zur Verfügung. In der stimmlich kleinen Rolle, die von der Regie aber zu größerer, wenn auch stummer Bühnenpräsenz aufgewertet wurde, wusste Carolyn Frank mit sanften, geschmeidigem Mezzo zu gefallen. Der Knabe Yniold war mit der schon etwas reiferen Mädchenstimme von Stella Rembalski gut besetzt. Als Arzt trat der Bassist David Otto vom Chor auf.

Der Tessiner Lorenzo Fioroni hat sein Regiehandwerk in Deutschland bei namhaften Regisseuren gelernt. Am Handwerklichen ist auch nichts auszusetzen. Das Premierenpublikum – einige Plätze blieben nach der Pause leer – nahm seine Arbeit eher gespalten auf, identifizierte sich auch nicht besonders mit dem Dirigat, während die Solisten eindeutige Zustimmung erhielten. Pelléas et Mélisande steht bis zum 13.03.2015 noch acht Mal auf dem Programm; nächste Vorstellung am 22. November.

Manfred Langer, 14.11.14
Fotos: Annemone Taake