Klagenfurt: „Carmen“

29. 12. 2015 (4. Vorstellung nach der Premiere vom 12. 12. 2015)

Ein junger Dirigent als Star des Abends

Cesare Lievi ist ein weltweit erfahrener Schauspiel- und Opernregisseur, der im Herbst 2013 eine packende Inszenierung von Verdis Macbeth auf die Klagenfurter Bühne gebracht hatte. Nun war er mit seinem Team (Bühne: Josef Frommwieser, Kostüme: Marina Luxardo) wieder in Klagenfurt – diesmal für Bizets Carmen, für ein Werk, das nach wie vor unangefochten mit Verdis Traviata und Puccinis Bohème weltweit zu den drei meistaufgeführten Opern zählt. Man konnte diesmal eine ordentliche, aber nicht außerordentliche – handwerklich solide – Inszenierung erleben – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist jedenfalls eine repertoiretaugliche Interpretation. Die vierte Aufführung nach der Premiere war bis auf den letzten Platz ausverkauft und wurde vom Klagenfurter Publikum mit viel Beifall bedacht. Der Grundgedanke der Inszenierung ist, Carmen sei „ein menschlicher Traum“. Das Stück beginnt in einer beengt-schwülen Polizeistation – später öffnen sich die weißen Rückwände, um die Zigarettenfabrik sichtbar werden zu lassen. Das Vorspiel zum 2.Akt ist ein Traumvision des eingesperrten Don José, der hinter den Gitterstäben eine sich entkleidende Flamenco-Tänzerin sieht. Die Polizeistation wird zu Lilas Pastias Schenke, um dann im dritten Akt die Bergwelt der Schmuggler in die weiße Enge des Raums geradezu hereinbrechen zu lassen. Im 4.Akt – ohne die großen Ballettszenen – stelzen archaische Puppenfiguren über die Bühne und Don José sitzt starren Blickes rechts vorne an seinem – nun zusammengebrochenen- Polizeischreibtisch, bevor sich zum letalen Ende die Bühne wieder zur ursprünglichen Polizeistation verengt. Nach dem Mord an Carmen öffnet sich die Türe und Micaela erscheint – Don José gleichsam im Spannungsfeld zwischen den beiden Frauen.

In diesem szenischen Rahmen wird die Handlung schlüssig, aber recht konventionell vermittelt. Man erlebt die üblichen Operngesten der handelnden Personen – exzellent allerdings die von Conchita Navarro Y Font choreographierten Tanzszenen. Menschlich berührende Figuren sind nur Don José und Micaela – alle anderen wirken geradezu stilisiert und bloß als gewohnte Carmen-Stereotype. Vielleicht ist es das, was Cesare Lievi meint: blut- und lebensvolle Menschen sind bloß Don José und Micaela, die die Geschichte in einem zwanghaften Traum durchleben müssen?? Wie auch immer: die Inszenierung erschließt sich jenen, die das Stück das erste Mal sehen – und sie vermittelt auch den Opernroutiniers Nachdenkenswertes. Wenn das einem Regisseur bei Carmen gelingt, dann ist das eigentlich ohnedies schon sehr viel!

Der wahre Star dieses Abends war aber wohl der 25-jährige Dirigent Lorenzo Viotti, der im Sommer 2015 bei den Salzburger Festspielen den Young Conductors Award gewonnen hatte. Da muss man kein großer Prophet sein: der junge Mann steht am Beginn einer bedeutenden Karriere! Lorenzo Viotti ist es Klagenfurt gelungen, Bizets Musik ungemein spannungs- und farbenreich zu vermitteln. Alles, was man schon so oft in vielfältigen Interpretationen gehört hatte, klang diesmal geradezu neu entdeckt. Nichts war banal und platt – da blühten in dem straffen musikalischen Ablauf immer wieder wunderschöne kammermusikalische Details auf. Ich habe das Klagenfurter Orchester schon sehr oft gehört, wie in meinen Opernfreund-Berichten der letzten Jahre nachzulesen ist – diesmal ist es unter Viottis Leitung über sich hinausgewachsen. Und natürlich hat auch das junge Sängerteam von Lorenzo Viottis Einstudierungsarbeit profitiert – eine exzellentes Beispiel für vorbildliches Ensemblemusizieren war etwa das durchaus heikle Schmugglerquintett im 2.Akt, in dem Orchester und Stimmen ideal verbunden waren.

Die kleineren Rollen waren alle adäquat besetzt: Grga Peroš war ein sehr guter Dancairo, Ivana Zdravkova eine charmant-quicke Frasquita und Martin Summer ein gut gespielter, mit schönem Stimmmaterial (aber leider ohne zentriertem Stimmsitz) begabter Zuniga – alle drei sind noch in ihrem Gesangsstudium und haben erfreulicher Weise schon die Chance, sich in Klagenfurt im professionellen Rahmen zu erproben. Überzeugend waren auch die Mercédès von Christiane Döcker, der Remendado von Thomas Tischler und der Moralès von Nikos Kotenidis.

Drei der vier Hauptpartien waren mit Rollendebütanten besetzt. Charles Rice war leider ein allzu leichtgewichtiger, also unzureichender Escamillo – da fehlte es an vielem: am nötigen Stimmvolumen, an technischer Reife und an der die Szene beherrschender Präsenz. Die 27-jährige Schweizerin Eve-Maud Hubeaux ließ eine sehr schön timbrierte, technisch sauber geführte Mezzostimme und eine ausgezeichnete Textartikulation hören. Aber das ist für eine überzeugende Carmen noch zu wenig. Da gäbe es noch viele Klangschattierungen zu erarbeiten – aber vor allem ist sie als Bühnenpersönlichkeit eine allzu damenhaft-gezierte, ja artifizielle Erscheinung (die noch dazu im Schlussbild unvorteilhaft kostümiert ist). Die elementar-weibliche, unerbittliche Seite der Titelrolle konnte sie weder in den Auseinandersetzungen mit Don José noch in der Karten-Arie vermitteln. Sie war meist eine brav gespielte Carmen-Schablone.

Die dritte Rollendebütantin Elsa Benoit überzeugte als unsentimental-klare Micaela-Verkörperung mit großer Bühnenpräsenz. Sie sang ihre Partie mit zart-beweglicher Stimme technisch sehr sauber und sicher – aber es fehlten mir doch ein wenig die Wärme und die breitausschwingenden Phrasen eines lyrischen Soprans. Derzeit ist sie vom Stimmcharakter her (noch) keine adäquate Micaela – sie ist stimmlich eben eher eine Despina, Barbarina oder Susanna – man braucht sich ja nur die bisher gesungenen Partien auf ihrer Homepage ansehen. Möge sie den Schritt von der Soubrette zum lyrischen Sopran nicht zu früh machen!

Für ihre ehrliche Rollengestaltung erhielt sie jedenfalls an diesem Abend vom Publikum eindeutig den größten Applaus. Den 36-jährigen griechischen Tenor Demos Flemotomos kennt man in Österreich schon aus verschiedenen mittleren Rollen an der Wiener Staatsoper, man kennt ihn als überzeugenden Cavaradossi in Graz, aber auch als Don José in St. Margareten. Er ließ sich an diesem Abend wegen einer Verkühlung als indisponiert entschuldigen – und bot doch für mich die überzeugendste Solistenleistung des Abends! Flemotomos sang sehr konzentriert, forcierte nie und bewältigte schon im 1.Akt das heikle Duett mit Micaela ausgezeichnet. Da hörte man sehr schöne lyrische Phrasen und sichere Spitzentöne in Piano und Forte. Mag sein, dass er durch die Verkühlung bei den dramatischen Ausbrüchen im 2. und 3. Akt ein wenig „sparte“ – aber auch hier gelang alles wirklich sehr gut mit stets metallischen, aber nie forcierten Spitzentönen. Und im Finale hatte er genügend Reserven, um die tödliche Verzweiflung überzeugend zu gestalten. Dies verband er mit bescheiden-natürlichem Spiel zu einer gültigen, ja sehr guten Interpretation des Don José. Wie schon eingangs gesagt: Micaela und Don José waren menschlich berührend – alles andere um sie herum war durchaus ordentlich, aber eben bloß Opernkonvention.

Wie so oft in Klagenfurt: Chor und Extrachor (Leitung: Günter Wallner) und die Singschule Carinthia (Leitung: Apostolos Kallos und Krassimir Tassev) machten stimmkräftig und engagiert ihre Sache sehr gut.

Mein Kurzresümee des Abends:

Ein herausragender Dirigent in einer brauchbaren Inszenierung mit einem (teilweise sogar sehr) ordentlichen Solistenensemble!

Hermann Becke, 30. 12. 2015

Szenenfotos: Stadttheater Klagenfurt, (c) Aljosa Rebolj

Hinweise:

– 10 weitere Termine im Jänner und Februar 2016

Probenvideo samt Interviews mit dem Regisseur und der Hauptdarstellerin