Salzburg: „Idomeneo“

Vorstellung am 9. August 2019

Peter Sellars kommt in die Jahre…

Gestern Abend gab es also eine weitere Aufführung von Mozarts „Idomeneo“ in der Felsenreitschule. Es wurde offenbar, nicht zuletzt durch signifikante Buhrufe am Schluss, dass die Idee des mittlerweile auch schon als Altmeister zu bezeichnenden Regisseurs Peter Sellars, den Idomeneo auf die fortschreitende Zerstörung der Umwelt und insbesondere den Klimawandel, aus welchen Gründen auch immer er fortschreitet, abzustellen, in er von ihm gewählten szenischen und dramaturgischen Form nicht verfing und schon gar nicht überzeugte. Zu sehr ist Sellars inszenatorische Ästhetik in einem „Schön“ und „Appetitlich“-Inszenieren fixiert, als dass der Umweltfokus seines „Idomeneo“ optisch offenbar würde. Erst recht, wenn man die eindringlichen und einschlägig bekannten sowie Tagesschaugerecht bebilderten Appelle von sage und schreibe zehn bekannten und weniger bekannten Umweltaktivisten gleich zu Beginn des Programmheftes gelesen hat. Sie sind noch vor der Besetzung und also noch vor dem Inhalt zu finden – darunter Luisa Neubauer, ein offener Brief von FridaysForFuture, deren Sprecherin sie in Deutschland ist, und natürlich Greta Thunberg, die nach schweizerischen und deutschen Medien offenbar auf der Klimakonferenz „Smile for Future“ in der Schweiz gestern Journalisten aus dem Saal hat werfen lassen, sie dann nach etwa zehn Minuten aber wieder herein durften. Es gab offenbar ernste Meinungsverschiedenheiten unter den Aktivisten. Fängt die Revolution bereits jetzt an, ihre Kinder zu fressen, noch bevor Thunberg ihre Segelyacht in die USA bestiegen hat?! Es wäre etwas früh. Jedenfalls sehen die von Sellars und seinem Bühnenbildner George Tsypin, der immerhin den berühmten ossetischen „Ring des Nibelungen“ von Valery Gergiev in St. Petersburg eindrucksvoll bebildert und dort wie hier eine Vorliebe für transparente gläserne Gebilde an den Tag legte, gezeigten mittelgroßen bis riesigen kugelförmigen Plastikgebilde nicht wie Müll sondern eher wie die bei Südwind an der südafrikanischen Küste bei Kleinmond zusammen mit den dort üblichen Riesenalgen antreibenden Schaumblasen aus. Oder wie kunstvoll von Swarovski bzw. in Murano geblasene Glasarbeiten, die noch der Bemalung harren. Die beiden größten lassen auch eine mögliche optische Vaterschaft des futuristischen Kunsthauses Graz vermuten, immerhin nicht so weit weg wie Südafrika…

Das sieht ja ganz nett aus, auch das spätere Ziehen an die Decke der Felsenreitschule, wohl weil es doch am Ende hinderlich war. Aber es war ohne Programmheftstudium ganz und gar nicht eingängig. Der Müll unserer Tage sieht anders, schlimmer aus! Und der im Meer treibende zumal! Wer mal in eine Hafenbucht in Buenos Aires oder Lagos geschaut hat, weiß das. So fies, aber damit viel intensiver in der gewünschten Zusage, darf es bei Sellars wegen seines oben angedeuteten ästhetischen Anspruchs aber nicht sein. Auch der Müll muss noch ansprechend aussehen. Wenn man aber neben dem Klimawandel auch den Umweltschutz zum Thema macht, an dem man die allgemeine Zerstörung des Lebensraumes schildern will, dann muss man, wenn man realistisch sein will – und das dokumentiert Sellars mit zwei Maschinengewehr-bewaffneten Sicherheitsbeamten, die bei jeder noch so geringen Bewegung Ilias die Waffen auf ihren Kopf richten – beim Thema Müll so richtig in die Sche… fassen. Und mit dem offensichtlichen Verzicht darauf verliert sein Regiekonzept an Klarheit und Überzeugungskraft.

Stattdessen werden Wellenbewegungen durch modische, blau leuchtende, aus dem Boden aufsteigende Röhren stilisiert. Wenn sie bei Idomeneos „Ankunft“ am Strand rot blinken, wirken sie wie die Einweisungsfeuer am Kopf der Landebahnen an Großflughäfen. Bei Sellars Bühnenbildern spielen meist aus Glas bestehende Röhren offenbar immer eine große Rolle. So sahen wir es auch schon in seinem Titus 2018. Vor vielen Jahre erlebte ich an der Finnischen Nationaloper Helsinki einmal die Oper „L’amour de loin“ der bekannten finnischen Komponistin Kaija Saariaho. Auch hier gab es bühnehohe leuchtende Säulen über einem See, die damals großen Eindruck machten und dramaturgisch sinnvoll erschienen. Im Salzburger „Idomeneo“ wimmelt es nun aber nur so von Glassäulen, von denen einige recht umfangreich sind und sogar mit dem Plastik-Müll zum Schnürboden hochgezogen werden. Damoklesschwerter der heutigen Zivilisation? Die Sinnhaftigkeit dieser großen Säulen, die vielleicht rituelle Stelen sein sollen, erschloss sich mir zumindest allenfalls in der Szene des Gran Sacerdote, den Idomeneo um Gnade bittet, der aber flieht, als man ihm den Plastikmüll vor die Füße legt… Issachah Savage, den ich im Mai in Bordeaux als guten Siegmund hörte, ließ als Sacerdote einen anbrechenden Tenor erklingen.

Hier, und gerade auch bei den verwüstenden Stürmen und Umweltkatastropen, die den „Idomeneo“ auch charakterisieren, wäre nun wirklich einmal der intensive Einsatz von Video und Filmtechnik auf der dafür so dankbaren riesigen Galerien-Wand der Felsenreitschule angebracht gewesen, die Sellars und Tsypin total verschenken – bis auf ein paar rote Ampeln, wenn Elektra ihre finale Arie singt. Sie sollten sich einmal in Savonlinna umsehen, wie man das macht. Stattdessen muss der herrlich facettenreich singende und sowohl im Piano wie gerade auch in den dramatischsten Momenten beeindruckende musicAeterna Choir of Perm Opera, von Vitaly Polonsky einstudiert und dem Samoaner Lemi Ponifasio perfekt choreografiert, die Gewitter- und Katastrophenszenen bewerkstelligen.

Und damit kommen wir zur musikalischen Seite, und damit dem erfreulicheren Teil. Offenbar wurde, was das Sängerensemble angeht, auf eine vornehmlich lyrische Interpretation gesetzt. Die irische Mezzosopranistin Paula Murrihy singt einen wundervollen Idamante, klangschön, wenn nötig mit dem erforderlichen Aplomb, aber auch im Piano beeindruckend. Darstellerisch meistert sie ihr emotionales Spannungsfeld zwischen Ilia und Elektra, übrigens schon von der ersten Szene an, bestens. Die aus Ningbo in China stammende Sopranisten Ying Fang, die in Shanghai an der New Yorker Juilliard School studierte und auch am bekannten Lindemann Young Artist Development Program der Met teilnahm, ließ einen perfekt geführten glockenreinen sowie fast vibratofreien Sopran erklingen, in jedem Moment ein nahezu perfekter Vortrag. Darstellerich gab sie mit ihrer sanften Zurückhaltung einen klaren Gegenpol zur Rivalin Elektra. Die US-Amerikanerin Nicole Chevalier setzt ihren dramatischen Sopran gekonnt zur Darstellung der schwierigen Situation der einerseits liebenden, andererseits aber auch abgrundtief hassenden Atridentochter ein. Ihre finale Arie bis zum tödlichen Umfallen war vielleicht der Höhepunkt des Abends. Eine großartige Rolleninterpretation!

Leider stand diesem begnadeten Trio der Damen kein männlicher Gegenpol gegenüber. Denn der Idomeneo, immerhin die Titelpartie des Stücks, wenngleich Idamante die wichtigere Rolle spielt, erwies sich mit dem US-amerikanischen Tenor Russel Thomas als unterbesetzt, wenn nicht sogar fehlbesetzt. Zu keinem Zeitpunkt kann sein Tenor Klangfarbe entfalten, die Resonanz ist viel zu gering und schon zu Beginn hatte der Sänger hörbare Probleme mit den Höhen. Im übrigens belanglos choreografierten aber so wichtigen Quartett im 2. Teil war Thomas neben den drei Damen kaum zu hören. Wie erfreulich dagegen die Stimme von Jonathan Lemalu, einem in Neuseeland geborenen Samoaner, der vom rechten Seitenbalkon Nettuno hörenswerten Respekt verschuf. Der Südafrikaner Levy Sekgapane ergänzte das also weitgehend gute bis exzellente Ensemble mit einem etwas kleinen Tenor ansprechend.

Teodeor Currentzis hatte die musikalischen Leitung und beeindruckte gleich von Beginn an mit seinem exakten Schlag, dem intensiven Blickkontakt mit einzelnen Musikern oder Gruppen des Freiburger Barockorchesters. Dieses gab sein wohl Allerbestes, was Currentzis auch in der Lage war herauszuholen. Und es passte zur lyrischen Schwerpunktsetzung des Sängerensembles. Ich habe den „Idomeneo“ auch schon dramatischer gehört, aber das können die alten Instrumente des Barockorchesters naturgemäß auch nicht leisten. Es war dennoch musikalisch erstklassig.

Ein große Verwunderung am Schluss. Alle Akteure, bis hinunter zu den Statisten, versammelten sich nach der abschließenden Ballettmusik KV 367 in einer langen Reihe und nahmen den Applaus in dieser Formation bis auf die Ausnahme, die acht Protagonisten allein vortreten zu lassen, entgegen. Wo waren die „Einzelvorhänge“!? Insbesondere die drei Damen hätten sich diese verdient gehabt. Bei allem Verständnis für eine hier möglicherweise überpostulierte Teamarbeit, bei der es keine Bevorzugten geben soll, halte ich das für völlig unakzeptabel. Ich kann mich gar nicht erinnern, dass auch in Theatern mit großer Bühne und fehlendem Vorhang die Protagonisten nicht einzeln zum Applaus vortraten. Und ich gehe öfters in die Oper. Was war denn der Grund? Ich würde es gern wissen, habe aber einen Verdacht…

Klaus Billand 11.8.2019

Foto: Salzburger Festspiele/ Ruth Walz