Buchkritik: „Die ersten Bayreuther Festspiele 1876“, Bernd Zegowitz

„Cette soi-disant musique de l’avenir est vouée à un oubli certain – Diese sogenannte Musik der Zukunft ist dem sicheren Vergessen geweiht“. Albert Wolff, der Redakteur des Pariser Figaro, stand damals nicht allein mit dieser Meinung, ja, liest man sich alle Rezensionen und Berichte durch, die nun in einer Anthologie zu den ersten Bayreuther Festspielen zu finden sind, bekommt der Leser den Eindruck, dass der Chor derer, die nicht an eine Fortsetzung der Festspiele glaubten, größer war als der der Wagnerianer.

Eine Textsammlung zu Wagner ist an sich nichts Neues, viele Quellen und Zeitzeugenberichte wurden noch einmal post festum oder immer wieder publiziert; auch finden wir, im ersten Band von Susanne Großmann-Vendreys umfangreichem Werk zur Presseberichterstattung der Bayreuther Festspiele, die meisten der deutschen Berichte wieder, die Bernd Zegowitz (Autor einer lesenswerten Dissertation über Wagners unvollendete und unkomponierte Opern) nun neben den französischen und englischen kompiliert hat – die meisten, doch nicht alle. Vergleicht man zudem und unmittelbar die Berichte der (oft) begeisterten, manchmal sanft belustigten Erinnerungen der Sängerinnen (z.B. Lilli Lehmann), musikalischen Assistenten (z.B. Felix Mottl), des Chefchoreographen Richard Fricke und anderer Mitstreiter mit den kritischen Berichten der Zugereisten, wird die Diskrepanz zwischen den Produzenten und den Rezipienten offensichtlich – dass die Auswahl zumal der Rezensionen leicht tendenziös gefärbt ist, liegt allerdings, vielleicht, auch daran, dass sich die bösen Tiraden und vor Unverständnis nur so triefenden Meinungen der sog. Fachkritik wesentlich amüsanter lesen als die Elogen der Wagner-Aficionados. Dies gilt selbst und gerade für Idioten wie Eduard Hanslick oder Ludwig Speidel, wobei noch Unterschiede des Tons und der kritischen Begabung auszumachen sind. Beharrte Hanslick starr auf einer klassischen Ästhetik und einer angeblich „natürlichen“ Empfindung dessen, was „richtig“ und „falsch“ sei, so liest man bei Speidel kaum noch Differenzierungen heraus, was nicht ausschloss, dass man von einigen wenigen und meist den selben „Stellen“ (dem Waldweben, dem Schluss der Walküre) angetan sein konnte. Für viele Kritiker war Wagner schlicht und einfach der Schöpfer von „Monstrositäten“, da der Ring in seiner Großform und seiner Stilistik in kein Schema und keine Schublade von 1876 zu packen war. Das Einzige, was den Unmut, ja: den Hass mancher Herren allerdings wenn nicht entschuldigt, doch erklärt, waren die äußeren Umstände, von denen die meisten Berichte zeugen: wer in eine Stadt, eine „weltabgelegene Insel“ wie Julius Hey sie nannte, kommt, in der es für die vielen Besucher kaum genügend Nahrung gibt, wer vor den Aufführungen in Gluthitze eine staubige, schattenlose Alle hinaufsteigt, um dann stundenlang in einem viel zu heissen Saal zu verweilen und sich in den Pausen kaum einen Schluck Wasser erkämpft, ist schlecht gestimmt. Dies gilt damals wie heute. Wolff sprach damals von einer „atmosphère pestilentielle“, was sowohl auf die Temperaturen im Hohen Haus als auf die seltsamen Wagnerianer ging, die neben Wagner nur Wagner selbst anerkannten.

Berühmt wurde Peter Tschaikowskys Bericht weniger aufgrund seiner kritischen Anmerkungen zu Werk und Aufführung als für die Schilderung eben jener Umstände. Ein Plus der neuen Edition besteht darin, dass Zegowitz einige bis dato im deutschen Sprachraum unbekannte Kapitel des Berichts erstmals übersetzen ließ. Zu den Neuigkeiten der Sammlung gehören die Berichte aus dem Englischen, die Texte von Joseph Bennett und einem F.A.S., mit dem der Band versöhnlich schließt, weil der Autor sine ira et studio das Unternehmen wie das Werk gerecht einzuschätzen vermochte. Liest man alle Texte im Zusammenhang, werden Leitmotive sichtbar, die die reale Situation gut treffen: das Defizit mancher Sänger (wie des Siegfried Georg Unger) und Darsteller (die Sieglinde der Josefine Scheffzky war für fast alle Rezensenten furchtbar), die an manchen Stellen unvollkommene szenische Realisation (das Finale, das im Rheingold zu leise Orchester, die leicht bizarre, positiv ausgedrückt: moderne Lichtregie Richard Wagners (der durch die Bogenlampen erzeugte grelle Schein auf manch Protagonisten), der „barbarische Realismus“ der Inszenierung, gegen den sich Isidor Kastan, der geschworene Feind allen Naturalismus auf der Bühne, polemisch verwahrte. Dies lesend, denkt der Opernfreund von Heute: Was hätte der Kritiker wohl zu den heutigen (Wagner-)Inszenierungen gesagt? Schwerwiegender aber ist die Beobachtung, dass Wagner in einem wesentlichen Punkt von so ziemlich niemandem unter den kritischen Kritikern und wohl auch von den wohlwollenden nicht verstanden wurde: dass Wotan nicht „göttlich“ interpretiert wurde – dies ging keinem ein. Dass Wagner mit dem Obergott eine problematische Figur, einen Repräsentanten seines als verderbt erkannten Zeitalters also, ausstellen wollte, mochte und konnte niemand verstehen, auch wenn er die Handlung an sich genau interpretierte. Dass man Wotans Monolog im zweiten Walküre-Akt als zu lang, ja: so überflüssig empfand wie die Wissenswette, verstand sich angesichts der neuen Wagnerschen Epik von selbst. Dass viele Beobachter der sog. Fachpresse (nicht Theodor Helm, der darin schon klüger war als später der Wagner-Kritiker T.W. Adorno) offensichtlich taub waren, als sie die Besonderheiten der Variationstechnik der Wagnerschen Erinnerungsmotive überhörten, entspricht dem Unmut, mit dem sie die Möglichkeit abwehrten, dass noch in Zukunft Opern auch ohne Arien, „klassische“ Duette und Chöre (im vertrauten Schema) so möglich seien wie zu Beginn der Operngeschichte? Dass Wagners Festspiel besonders „national“ und „deutsch“ sei, wurde übrigens von den meisten Kritikern verneint, wenn sie auch Wagners „Tatkraft“, typisch gründerzeitlich, vorbehaltlos anerkannten – ein Hinweis darauf, dass Wagner nicht per se als „typisch deutsch“ (was immer das auch sein mag) klassifiziert wurde und werden kann.

Spannend also, was die Kollegen Helm, Speidel, Spitzer (der berühmte Daniel Spitzer, der „Wiener Spaziergänger“), Gehring, Marr und Lindau (dessen leicht amüsantes Büchlein vor einigen Jahrzehnten nachgedruckt wurde) damals alles herausließen. Kamen hinzu die Berichte der Kollegen Tschaikowsky und Saint-Saëns (hier in französischem Original; die deutsche Fassung ist anderweitig zu haben) – und die Reportagen aus der Werkstatt: nach dem Abschlussbericht Wagners kamen sie vom Requisiteur und Ausstatter Carl Emil Doepler, der der Ungnade Cosima Wagners verfiel, vom „Ballettmeister“ Richard Fricke (dessen erstrangiges Tagebuch in einem Reprintdruck vorliegt), vom Gesangs- und Stimmen-Coach Julius Hey, der die Proben panoptisch zusammenfasste (neuere Editionen liegen in dieser relativen Länge nicht vor), von Lilli Lehmann, Felix Mottl und vom Assistenten Heinrich Porges, dem es gelang, die moralische Klippe, über die der „Held“ in der Götterdämmerung stürzt (die Überwältigung Brünnhildes durch Siegfried), zu umschiffen, indem er sie ignorierte. Zegowitz erwähnt in seinem Vorwort noch einige andere Autoren und seltene Quellen (Nietzsches Freund Erwin Rohde kommt dabei ins Spiel) und gibt einen summarischen Überblick über die ersten Festspiele und ihre Themen, bevor sie selbst in den verschiedenen Stimmen in ihren Variationen erklingen. Viele Texte werden dem Kenner ganz oder zumindest in Teilen bekannt sein, doch zusammen mit den neugefundenen und edierten Raritäten und in der Zusammenschau, mit besonderer Konzentration auf die Praxis der Aufführungen, bilden sie ein Corpus, das so amüsant wie historisch faszinierend, so spannungsreich wie modern anmutet – denn die Frage, wie wir seinerzeit unter den Bayreuther Bedingungen des Jahres 1876 auf den Ring reagiert hätten, kann nur hypothetisch beantwortet werden. Vielleicht hätten ja auch wir Wagners Zukunftsmusik, die heute noch gespielt wird, verflucht.

Frank Piotek 26. Mai 2023


Die ersten Bayreuther Festspiele 1876

Eine Anthologie (= Wagner in der Diskussion, Bd. 22).

Hrg. von Bernd Zegowitz.

Königshausen und Neumann 2022. 383 Seiten.