Berlin: „Oedipe“, George Enescu

Die Gräueltaten der Handlung von George Enescus Oedipe stellt Regisseur Evgeny Titov bei seiner Neuinszenierung in der Komischen Oper mit naturalistischer Deutlichkeit und schonungsloser Grausamkeit aus. Rufus Didwiszus schuf dafür einen von Metallplatten eingeschlossenen hohen Raum mit einer quadratischen Vertiefung in der Mitte und einem über der Szene schwebenden, zusammen gefalteten Objekt aus Leuchtstäben, das sich entfalten und schlangengleich winden kann. Hier beobachtet Oedipe in weißer Hose und weißem Hand (Kostüme: Eva Dessecker) seine eigene Geburt, reflektiert fortan sein Schicksal, das nun in aller Tragik ausgebreitet wird. Es ist ein großes Verdienst der Inszenierung, dass sie den Titelhelden in seiner Tragödie packend und eindringlich, dabei sehr berührend zu formen wusste. Die starke Wirkung ist freilich auch dem Interpreten Leigh Melrose zu verdanken, der darstellerisch mit körperlichem Totaleinsatz und gesanglich mit seinem imposanten Bariton von enormer Kraft und fabelhafter Diktion eine Glanzleistung vollbringt. Er trägt den Abend, obwohl auch in den anderen Partien hervorragende Kräfte am Werk sind. Karolina Gumos als Oedipes Mutter und spätere Gattin Jocaste durchmisst mit klangvollem Mezzo eine weite Spanne von Emotionen – von der animalischen Geburt des Sohnes unter Schmerzensschreien über die Trauer nach dem Tod ihres Mannes bis zum Selbstmord, bei dem das Blut wie eine Fontäne an die Wand spritzt.

Noch brutaler wird der von Oedipe ermordete nackte Laios (Christoph Späth mit reifem Charaktertenor) gezeigt, dem das blutige Gedärm aus dem Leib quillt. Einen schrecklichen Anblick bietet auch Oedipe nach seiner Blendung – die Aufführung fordert bis an die Grenze des Erträglichen.

Ein Ereignis ist Katarina Bradic als La Sphinge – zuerst in weißem, später in leuchtend rotem Anzug, wenn sie Jocaste Oedipe als Braut zuführt. Androgyn wie die Erscheinung ist auch die Stimme – ein voluminös strömender Mezzo mit der Anmutung eines Counters, ausladend in der Tiefe mit heulenden, lallenden, kreischenden Zwischentönen. Prägnante Charakterstudien liefern die Bassisten Jens Larsen als blinder Seher Tirésias mit machtvoll dröhnender Stimme und Vazgen Gazaryan als Le grand prêtre mit markigem Klang. Lyrische Töne bringt Mirka Wagner als Oedipes Tochter Antigone ein. Mit ihr wandert er am Ende bis nach Kolonos, wo er seinen Frieden findet. Mit dem Hemd versucht er die Wand mit allen Spuren rein zu waschen, taumelt wie in Trance mit ausgebreiteten Armen, bis er – scheinbar glückselig – zusammen bricht.

Die Chorsolisten und der Kinderchor der Komischen Oper Berlin (Einstudierung: David Cavelius/Dagmar Fiebach) sind im 2. Rang postiert und imponieren mit gewaltigem Chorklang. Ainars Rubikis am Pult des Orchesters der Komischen Oper hält die Balance zwischen exzessiven Klangballungen und lyrisch flirrenden Gespinsten. Schwelgerisch blüht das Orchester am Ende bei Oedipes Selbsterkenntnis auf und setzt den hinreißenden Höhepunkt

Bernd Hoppe, 9.9.2021

Bilder (c) Komische Oper Berlin