Flensburg: „Hänsel und Gretel“, Engelbert Humperdinck

© Tilman Koeneke

Für norddeutsche Sehgewohnheiten ist die Inszenierung von Tristan Braun im Bühnenbild und den Kostümen von Christian Blechschmidt recht modern. Während der Ouvertüre wird das Publikum mittels einer Videoprojektion in Film Noir Optik auf einen Waldspaziergang mitgenommen. Das wirkt bereits leicht beängstigend. Später kommt das karge Kinderzimmer von Hänsel und Gretel zum Vorschein, welches insbesondere durch die hohen dunkelgrauen Wände und die Umzugskartons, sowie eine lieblos auf dem Boden drapierte Matratze im Gedächtnis bleibt. Auf einem Fernseher ist dazu lediglich ein Bildrauschen zu sehen. Dazu gibt es eine Deckenlampe, die das Zimmer und die beiden Protagonisten in kaltes Licht taucht und später eine Ballonlampe, die sowohl Sonne als auch Mond sein kann. Auch ein Baum fehlt im zweiten Akt nicht auf der Bühne. In dieser fast unwirklich wirkenden Atmosphäre spielen die Geschwister zu Beginn mit ihrem Smartphone und filmen damit Tanzvideos, die sie vermutlich in den Sozialen Medien teilen wollen. Die ganze Oper über verlassen die beiden dieses ungemütliche Zimmer nicht. Die altbekannte Geschichte nach den Gebrüdern Grimm spielt sich offenbar vollständig in der Phantasie der Kinder ab. Bezeichnend hierbei ist es, dass Mutter und Hexe von ein und derselben Sängerin verkörpert werden. Wenn man bedenkt, dass Humperdincks Meisterwerk in einer Zeit entstanden ist, in der die Psychoanalyse ihre ersten Erfolge feierte, ist dies keine abwegige Interpretation. Statt Lebkuchenromantik beschert die Hexe schließlich als starken Kontrast zum grauen Alltag der Geschwister rosarote Zuckerwatte-Eskapaden. Alles in allem gelingt Braun eine schlüssige und unterhaltsame Sicht auf das Werk, mit der er das Flensburger Publikum begeistert.

Eine interessante Anekdote hierbei ist, dass Humperdinck sein Werk selbst ironisch als „Kinderstubenweihfestspiel“ bezeichnete und Tristan Braun im Jahr 2015 bei den Bayreuther Festspielen „Parsifal – für Kinder“ inszenierte.

© Tilman Koeneke

Gesanglich harmonieren Anna Grycan als Hänsel und Malgorzata Roclawska als Gretel wunderbar miteinander und beiden gelingt es, kindliche Bewegungsabläufe in ihr intensives Spiel mit einfließen zu lassen. Der helle Mezzosopran von Grycan verschmilzt dabei akustisch nicht selten mit Roclawskas glockenreinem und unschuldig anmutendem farbenreichen Sopran. Schönheit von Stimmen ist ja eine ganz individuelle Empfindung, aber für mich ist dieses Duo eine akustische Offenbarung.

Kai-Moritz von Blanckenburg gibt mit seinem kernigem Bariton den Vater Peter und ist dabei auch ganz wunderbar zu verstehen. Von der Figur her behäbiger angelegt als die Kinder, weiß er seine Stimme fein nuanciert und agil einzusetzen. Itziar Lesaka bleibt den beiden von ihr verkörperten Rollen Mutter Gertrud und Knusperhexe nichts schuldig und vermag sich mit ihrem schwereren Mezzosopran Eindruck zu verschaffen. Mayumi Sawada komplettiert das Ensemble tadellos als Sandmännchen und Taumännchen und der Kinderchor des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters wird von Damen des Opernchores unterstützt. Als Traumpantomimen tragen mimisch Rebecca Bayer, Lavinia Gosau, Berit Gröhn, Melina Hansen, Ellie Ivanov, Flo Junk, Maike Wedehase, Viktoria Wottschel und Lina Wurstner zum szenischen Gelingen dieser Aufführung bei.

© Tilman Koeneke

Die musikalische Leitung der Wiederaufnahme und auch der von mir besuchten Vorstellung liegt in den Händen von Avishay Shalom, der für romantischen Märchensound des Schleswig-Holsteinischen Sinfonieorchesters sorgt und die Künstler auf der Bühne und im Graben gut zusammenhält.

Marc Rohde, 29. November 2024


Hänsel und Gretel
Engelbert Humperdinck

Schleswig-Holsteinisches Landestheater, Flensburg

Premiere am 10. Dezember 2022
Besuchte Vorstellung: 26. November 2024

Inszenierung: Tristan Braun
Musikalische Leitung: Avishay Shalom
Schleswig-Holsteinisches Sinfonieorchester