Zürich, Konzert: „Mahler 6.“, Michael Tilson Thomas

„Übermächte sind im Spiel“, singt die Amme in Richard Strauss‘ Frau ohne Schatten am Ende des zweiten Aktes, wenn die Erde sich öffnet, alles zusammenfällt, ein Entkommen kaum möglich erscheint. Im Finale von Gustav Mahlers zehn Jahre zuvor entstandener Sinfonie Nr. 6 sind die Übermächte nicht nur im Spiel, sie sind regelrecht entfesselt, türmen sich zu unbeschreiblichen, tosenden Wogen auf, bizarre Klangfetzen flirren durch den Saal, Windesrauschen und erruptive Fluten kämpfen gegen verfremdete, schrille „Parsifal“-Choräle, der Kampf der Instrumente ist erbarmungslos, überschäumend, kulminiert in zwei eindringlichen Schlägen des Holzhammers, Paukenschläge hallen wie Gewehrschüsse, Posaunen und Tuba rufen in einer Schreckensvision zum Jüngsten Gericht. Kein Entrinnen ist möglich, keine hoffnungsstiftende Apotheose der Versöhnung. Mahler schliesst mit einem aufrüttelnden, durch Mark und Bein gehenden Moll-Akkord, der dann im Pianissimo verklingt.

Die Magier, die hier ihren Klangzauber verbreiten, sind die in Hochform spielenden Musiker des Tonhalle-Orchesters Zürich unter der Leitung des Dirigenten Michael Tilson Thomas. Man kann getrost sagen, das Konzert war ein Ereignis. Mahler hat sich ja in seinen sinfonischen Werken nie beschränkt, sie sind in ihren Ausmassen – wie bei Bruckner – meist Rahmen sprengend. Seine Sechste macht hier keine Ausnahme, gerade der Finalsatz stellt mit seiner Spieldauer von gut dreißig Minuten einen gewaltigen Brocken dar. Doch dem endlich in Zürich debütierenden Dirigenten Micheal Tilson Thomas und dem Tonhalle-Orchester Zürich gelingt das Kunststück, dass diese Sinfonie nie lang oder gar geschwätzig wirkt, das ist vom ersten, markant einfahrenden Marschthema an bis zur eine menschliche Hölle antizipierenden Schluss von einer nie nachlassenden Spannung geprägt, und dies obwohl Tilson Thomas nach jedem Satz kurze Erholungspausen einlegt, sich einen Schluck aus dem Wasserglas gönnt, ja vor Beginn des Finales den ersten Violinen gar nochmals das Hauptthema vorsingt.

(c) Kaspar Sannemann / Der Opernfreund

Schon bei seiner Begrüssung des Orchesters, wo er allen Streichern in der ersten Reihe die Hand schüttelte oder küsste, hatte man das Gefühl, dass die Chemie zwischen ihm und dem Orchester einfach stimmte. Mit klarer, uneitler Zeichengebung spornt er zu Höchstleistungen an, gibt auch den zerklüftesten Passagen Form und vor allem Gehalt, evoziert sphärische Klänge, Herdengeläute – Mahler liebte ländliche Idyllen auch wenn sie in dieser Sinfonie kaum je liedhafte Formen annehmen – gleissende Passagen der Blechbläser in großer eine Reinheit der Intonation; es herrscht eine kontrollierte Lockerheit, nichts wird zelebriert, sondern Tilson Thomas setzt auf zügige, mitreissende Kraft und nicht auf Gottesdienst. Tilson Thomas behält die ursprüngliche Satzreihenfolge bei – das ergibt wegen der Tonarten Sinn und wurde auch von Alma Mahler so empfohlen – und setzt nicht wie Mahler bei seinen eigenen Aufführungen das Andante an die zweite Stelle.

Im Scherzo dominiert die Dämonie, martialisch unterlegt mit reichhaltigem Einsatz des Schlagwerks und abgründigen Ländlerpassagen. Aufhorchen lassen exzellent ausgeführte, mystisch-groteske Holzbläserpassagen. Die Holzbläser sind es dann auch, die im Andante, dem kurzen Ruhepol der Sinfonie, zusammen mit den mit warmem Klang intonierenden Streichern kurzzeitig etwas tröstende Innigkeit verbreiten. Es öffnet sich ein weites Klangspektrum, exquisite Klangmischungen aus Celesta, Xylophon, Harfen, Englischhorn und Streicherklängen in den allerhöchsten Lagen – blitzsauber intoniert – erfreuen das Ohr, bevor eine schmerzhafte Aufwallung auch diesem Zauber ein Ende bereitet und danach im Finale die erwähnten entfesselten Mächte alles „Schöne“ zu Fall bringen. Die Genialität Mahlers offenbart sich in seiner „modernsten“, persönlichsten und ergreifendster Sinfonie, der Tragischen, die zwar in einer Stimmung des Glücklichseins geschaffen worden war, jedoch den Schrecken, der ihn bald sowohl persönlich als auch die Welt im Allgemeinen ereilen wird, beklemmend antizipiert.

Hoffentlich darf man Michael Tilson Thomas bald wieder einmal in Zürich erleben!

Kaspar Sannemann, 4. Juni 2023


Tonhalle Zürich

Gustav Mahler: 6. Sinfonie

3. Juni 2023