Köln, Kinderoper: „The Musician“, Conor Mitchel

Kinder können schön gemein zueinander sein! Besonders das fiese kleine Mädchen spielt dem armen Jungen mit dem grünen Pullover und der zahmen Maus ganz schön übel mit. Der entdeckt unter der Anleitung des Musikers, dass er wunderbar Flöte spielen kann und damit Menschen und Mäuse manipuliert. Aus ihm wird schließlich der Rattenfänger von Hameln. Die zu Grunde liegende Leitmelodie des Rattenfängers regt auch Erwachsene zum Nachdenken an.

© Sandra Then

Die Oper für Kinder ab sieben Jahren von Conor Mitchell nach dem Libretto des irischen Komponisten hatte 2021 ihre Welturaufführung als Stream im Arts Center Belfast und wurde von Arne Böge, der auch Regie führte, Rainer Mühlbach und Svenja Gottsmann sehr kindgerecht ins Deutsche übersetzt. Die zu Grunde liegende Geschichte des Rattenfängers thematisiert die Urangst des Menschen vor gebrochenen Verträgen und die suggestive Kraft der Musik.

Das Bühnenbild und die Kostüme von Hendrik Scheel sind sehr stilisiert. Mit wenigen Requisiten, unter anderem einem Schreibtisch, einem Overheadprojektor und einer Straßenlaterne vor einer Art Tafelbild einer Großstadt wird zeitlose Moderne suggeriert. Das fiese kleine Mädchen im rosa Prinzessinnenkleidchen und dem goldenen Mantel, der Junge mit den grünen Pullover, der Reisende mit der Feder am Hut und der Musiker im Frack sind Typen ohne Namen.

Die Geschichte wird von einem Erzähler gesprochen, der später zum erwachsenen Rattenfänger mutiert. Sie beginnt mit dem bitterarmen Waisenjungen, der ohne Eltern und Verwandte mit einer zahmen Maus in einer Höhle aus Pappkarton lebt. Er wird vom fiesen kleinen Mädchen besonders übel beschimpft und gedemütigt. Eines Tages kommt ein Musiker in die Stadt und bringt den Menschen das Wunder der Musik. Dem Jungen, der ihm dafür seinen einzigen Besitz, die zahme Maus, schenkt, bringt er das Flötenspiel bei und merkt, dass der Junge ein ganz besonderes Talent hat. Der Junge hat nun die Gabe, sich in der Stadt beliebt zu machen.

© Sandra Then

Die Menschen tanzen und sind glücklich, und auch die Maus, die der Musiker dem Jungen zurückgegeben hat, tanzt. Und als das fiese kleine Mädchen wieder einmal den Jungen beleidigt stürzen sich ganz viele Mäuse auf sie und drangsalieren sie. Das Mädchen verspricht dem Jungen alles, was er will, auch seinen goldenen Mantel, da pfeift der Junge die Mäuse zurück. Aber das Mädchen bricht das Versprechen und tötet die Maus des Jungen. Da wird dieser verbittert und sinnt auf Rache. Er lockt Ratten von überall her, die beißen das Mädchen so lange, bis es dem Jungen den Mantel gibt. Der Junge hat Gefallen an dem Spiel gefunden und drangsaliert die Stadt mit Rattenplagen.

Der alte Musiker erscheint wieder in der Stadt und ist entsetzt, was aus dem Jungen geworden ist, und beschwört ihn, nie wieder zu spielen. Doch der Junge lässt nicht ab von seinem Spiel und zieht weiter nach Hameln.

Eine tragende Rolle spielt das irische Kriegs- und Volkslied „The Minstrel Boy“ des irischen Romantikers Thomas Moore (1779-1852) über einen jungen Musikanten, der in den irischen Unabhängigkeitskrieg zieht und im Kampf fällt. Die Harfe des Musikanten ist dabei ein Symbol für Irland und für den irischen Willen, sich aus der Sklaverei zu befreien. Die Melodie – ein altes Volkslied – ist in Irland allgegenwärtig und wird häufig von Militärkapellen gespielt. Der schlichte Marschrhythmus, von Komponisten Conor Mitchell für Piccoloflöte mit Harfenbegleitung entschärft, verführt dazu, dem Pfeifer in den Tod zu folgen. Das Lied „The Minstrel“ ist ein typisches Beispiel für eine volkstümliche Melodie, der ein patriotischer Text unterlegt wurde, und die als populäres Kampflied im Unabhängigkeitskrieg Irlands eine tragende Rolle gespielt hat.

© Sandra Then

Dirigent Rainer Mühlbach macht vor Beginn der Vorstellung auf die Melodie aufmerksam und lässt sie zweimal spielen, denn in Deutschland ist sie nicht so populär wie in Irland, wo sie jeder kennt. „The Minstrel“ ist so etwas wie ein tonaler roter Faden, der sich durch das Stück zieht. Am Beispiel dieser schlichten liedhaften Melodie zeigt der Komponist, wie Musik entsteht.

Armut, Gemeinheit, Kälte und Demütigung werden durchaus mit schrägen, dissonanten Klängen ausgedrückt. Das auf der Bühne platzierte Gürzenich-Orchester in kleiner Besetzung spielt die anspruchsvolle, zum Teil sehr spröde Musik der Oper mit äußerster Präzision. Vor allem die Piccoloflöte und die Harfe haben wundervolle Passagen, zumal „The Minstrel“ von der Piccoloflöte mit Harfenbegleitung gespielt wird. Aus der Suche des Jungen nach den richtigen Tönen erwächst schließlich die Melodie, mit der der Rattenfänger die Kinder verzaubert.

Die außergewöhnlich schwierige Rolle des fiesen kleinen Mädchens wird von Tinka Pykper mit Bravour gestaltet. Ihr flexibler höhensicherer Sopran stellt die Oberflächlichkeit der verwöhnten Göre, die durchaus auch Dissonanzen singt, wenn sie ihre Gemeinheiten loslässt, treffend dar. Sie ist manchmal schrill und immer ehrlich, unverstellt. Wir erkennen uns selbst in ihr.

Der jungen Mezzosopranistin Luzia Tietze nimmt man die Nöte des armen Waisenjungen ab, der schließlich verbittert zum Rattenfänger wird. Ihr warmer, wohltimbrierter Mezzosopran rührt an, wenn sie über ihren Hunger und ihre Obdachlosigkeit singt. Ihr Gesang ist nicht immer tonal oder schön, denn sie trägt ein schweres Schicksal – das der bitteren Armut im Gegensatz zum verwöhnten reichen Mädchen. Der Junge wird wegen seiner schlechten Erfahrungen mit dem fiesen Mädchen zum bösen Rattenfänger, der die Macht der Musik missbraucht, um Eltern ihre Kinder zu entführen. Alter Ego des Jungen ist der Tenor Armando Elizondo, der anfangs als Erzähler auftritt und später der Rattenfänger von Hameln wird.

Die Rolle des Musikers wird von Bass Sun Yun Cho mit großer Autorität und Würde ausgestattet. Er warnt wie ein Priester vor dem Missbrauch der Musik zur Manipulation, wird aber nicht gehört, und resigniert.

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Für Kinder stellt sich die Geschichte ganz einfach dar, man muss auch das Märchen vom Rattenfänger nicht kennen.  Die tanzende menschengroße Maus oder Ratte, das später durch eine Fratze entstellte Mädchen und die unpersönliche Großstadt liefern Gruseleffekte.  Das Mädchen ist so gedankenlos, hässlich und gemein zum armen Jungen, dass man Schadenfreude entwickelt, als sie von den Ratten und Mäusen angegriffen wird. Der Junge wird nur deshalb so böse und verbittert, weil das fiese Mädchen ihm so übel mitgespielt hat, und dann entdeckt er sein Talent, die Ratten mit seiner Musik auf das Mädchen zu hetzen und rächt sich. Es ist eine denkbare Erklärung, wie Menschen dazu kommen, böse zu werden. Die Musik biedert sich nicht an, sie ist zum Teil atonal, gruselig, stark rhythmisch. Erwachsene, die klassische Oper oder gar nur populäre Musik gewöhnt sind, fühlen sich leicht überfordert, aber Kinder, deren Musikgeschmack noch nicht festgelegt ist, empfinden sie wie Filmmusik. Wie schon Wagner komponiert Conor Mitchell den Bruch von Verabredungen mit Dissonanzen.

Hinter der Kindergeschichte steckt aber viel mehr: „Auch das Dunkle liegt im Klang, Gefahr birgt diese Macht: der Zauber wirkt, doch wehe dem, der missbraucht diese Kraft. Die Macht ist stark, Musik schwillt an, bringt Zerstörung, Gewalt, – wenn nur Selbstsucht lenkt das Spiel.“

Den Schlüssel zur Interpretation liefert die Leitmelodie von „The Minstrel“, das als Rattenfängermelodie im Stück eine tragende Rolle spielt. Es ist ein irisches Volkslied, eine Musik, die als Militärmarsch patriotische Gefühle erzeugt und die früher mit Piccoloflöten und Trommeln im Kampf Mann gegen Mann gespielt wurde, um Soldaten im Kampf für nationale Unabhängigkeit oder fragwürdige Gebietsannexionen aufeinander zu hetzen. In patriotischen Filmen wie „Black Hawk Down“ und „Last Man Standing“ spielt diese Melodie eine große Rolle. Beim Rattenfänger wirkt diese Melodie so suggestiv, dass sie einerseits Ratten und Mäuse anlockt, aber auch Kinder ins Verderben führt.

Dabei ist Musik nicht per se gut oder böse, es kommt nur darauf an, wer sie zu welchen Zwecken instrumentalisiert und mit Texten unterlegt.

Die Kinderoper „The Musician“ ist jedenfalls ein beeindruckendes Stück modernes Musiktheater, das viele musikalische Stile verbindet und die suggestive Kraft einer sentimentalen Melodie erfahrbar macht. Die Theaterpädagogik der Oper Köln stellen zur Vorbereitung im Unterricht vielfältiges Material zur Verfügung. Nicht nur für Schulklassen, auch für Familien lohnt sich der Besuch.

Ursula Hartlapp-Lindemeyer, 6. März 2023

Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN


The Musician

Conor Mitchell

Kinderoper Köln

Besuchte Premiere am 24. Februar 2023

Welt-UA 2021 als Stream im Arts Center Belfast

Dirigent: Rainer Mühlbach

Gürzenich-Orchester