Achtmal Tschaikowskys „Eugen Onegin“ und kein bisschen langweilig
Arthaus Musik, DVD 2000/1944, Bolschoi: „Ein Gruß aus dem russischen Opernmuseum“
Im Jahre 2000 machte das Bolschoi allen Nostalgikern ein Riesengeschenk: eine Produktion aus dem Jahre 1944 (!) wurde mit all dem verstaubten Opernpomp, fast wie ein Gruß aus einem vergangenen Jahrhundert, wieder erweckt. Genau so habe ich aber das Bolschoi überhaupt selbst noch erlebt: mit gemalten hyperrealistischen Kulissen von gewaltigen Dimensionen. Das war schon auch eindrucksvoll, denn dieser naturalistische Blick in vergangene Opernzeiten wurde mit größter Intensität ausschließlich aus dem Text und der Musik heraus entwickelt. Dennoch war es auch manchmal lächerlich. Und der unermessliche Abstand zum heutigen Regietheater wurde überdeutlich klar. An dieser DVD kann man das noch einmal superdeutlich nachvollziehen. Und da musikalisch alles vom Feinsten ist, Mark Ermler einfühlsam dirigiert und alle prachtvoll singen, lohnt sich der Ausflug ins Opernmuseum tatsächlich, und sei es auch nur als Kuriosum.
2. Decca Film, 1972: „Elegische Traumbilder fürs Auge“
Opernfilme kamen in den 60iger Jahren schwer in Mode und blieben doch ein Irrweg: denn die Synchronisierung klappte fast nie gut. Und dann noch der sterile Studioton. Auch blieben die Gesichter der doubelnden Schauspieler selbst bei den anstrengendsten Hochtönen aus dem Playback recht entspannt, was auf die Dauer langweilig wurde. Ich bin überzeugt, dass die durchwegs großartigen Sänger den darstellerischen Teil selbst auch nicht schlechter gemeistert hätten. Stimmlich ist alles bestens mit Bernd Weikl und Theresa Kubiak, Julia Hamari und Stuart Burrows. Und als Dreingabe ist die Stimme Nikolai Ghiaurovs zu hören, dem vielleicht besten Gremin, wenn es denn nicht Furlanetto (siehe Nr.: 4) gäbe. Ob allerdings Solti mit seiner zupackenden Art der ideale Dirigent für „lyrischen Szenen“ ist? Wunderbar auf jeden Fall die optische Realisierung mit herrlich romantischen Bildern und elegischen Schneelandschaften. Deshalb begeistert dieser poetische Film vor allem Träumer und Schöngeister. Die es noch nicht sind, die werden es vielleicht durch diesen Film.
3.Decca, New York, MET 2007, DVD/Blu-Ray : „Topstars in Vollendung an der MET“
Renee Fleming ist als mädchenhaft jubelnde Tatjana ebenso überzeugend wie als große tragische Heldin, der man sofort glaubt, wie schwer es ihr fällt, auf ihr Glück zu verzichten. Da wüsste ich kaum eine bessere. Und Dimitry Horostovskys Samtbariton klingt einfach hinreißend, zumal ihm ja der versnobte Dandy auch darstellerisch bestens gelingt. Der herrlich singende Ramon Vargas macht aus dem oft etwas lahmen Lensky eine interessante und originelle Type. Nur Sergej Aleksashkin ist ein etwas hölzerner Gremin. Nun beweist sich der Qualitätsstandard einer Aufführung aber auch an den Nebenrollen. Stellvertretend sei hier Larisa Shevchenko als überzeugend mütterliche Amme genannt. Valery Gergiev kennt die Partitur sicher bis ins Detail und setzt Tschaikowskys „Lyrische Szenen“ sehr wohltönend um. Das passt recht gut zur knappen Inszenierung Robert Carsens, der sich im äußerst sparsamen Bühnenbild wohl ganz auf das Charisma seiner Topstars verlässt. Und so macht er wenigstens nichts kaputt, wie manche seiner Kollegen von der Zunft des Regietheaters. Das Publikum jubelt wirklich mit Recht und feiert begeistert eine Aufführung mit Topstars in Vollendung.
4. Wien /Salzburg, 2007, DVD: „In der Regiekälte erfrorenes Liebespaar“
Das ärgert mich schon immer, wenn die Handlung modisch schick in ein anders Jahrhundert verlegt wird (Sowjetunion um 1980), in das weder die Personen noch ihr Verhalten auch nur annäherungsweise hineinpassen. Der Dandy Onegin in der Sowjetunion! Und das verträumte Adelsmädchen Tatjana! Und dann soll 1980 einer Frau auch noch das Briefeschreiben peinlich sein, wie weiland 1833. Blöder geht’s ja gar nicht mehr! Doch! Denn den Brief tippt sie bei kaltem Neonlicht in einem Glashaus gar auf einer Schreibmaschine! Deren Geklappere vernichtet jetzt auch noch rhythmisch die herrliche Musik zur Briefszene. Und dann noch ein Duell 1980 in einer Kolchose! Das kann nur jemandem einfallen, der vom Sprechtheater kommt. Als „moderne Überformung“ wird das von Kritikern hochgejubelt. Und macht doch nur eine eigentlich einfache Geschichte und deren Charaktere unverstehbar. Was unsere Teilnahme an deren Geschick gegen Null minimiert. In dieser unterkühlten und verkopften Umgebung können mir die durchwegs sehr guten Sänger nur noch leidtun! Und sie geben wirklich ihr Bestes: allen voraus der stimmmächtige Peter Mattei in der Titelrolle und der große Ferruccio Furlanetto als einzigartiger alter General. Die hervorragende Anna Samuil wird trotz ihres Totaleinsatzes schon in der Briefszene von der kalten und gnadenlosen Regie um jede Chance gebracht. Daniel Barenboim versucht wohl zu retten was zu retten ist, erreicht aber bei weitem nicht die Intensität und den Schwung seines Schülers Omer Meir Wellber (Siehe Nummer 7). Nicht ohne Grund wurde diese Einspielung inzwischen aus dem Angebot genommen.
5. Naxos/Opus Arte, Amsterdam, DVD/Blu-ray, 2012: „Ertrunken in den Fluten der Regieeinfälle!“
„Zuviel, zu viel! Ach, das ich nun erwachte!“ hätte ich mit dem seligen Tannhäuser am liebsten aufgeschrien, beim Ansehen dieser kitschigen, klischeehaften, wenn wohl auch ironisch gemeinten, Monsterschau über die Geschichte Russlands. Denn wie so oft ertrinkt die eigentliche Handlung in den Fluten der überbordenden Regieeinfälle Stefan Herheims. Was da an Kosmonauten, orthodoxen Priestern, Zaren, dem russischen Bären, sowjetischen Olympioniken und Kolchosbauern über die Bühne walzt, das trampelt alles andere gnadenlos ins Off. Mich wundert nur, dass uns Putin und Stalin erspart blieben, lässt der Regisseur sich doch sonst keinen noch so blöden Gag entgehen. Ja und die Liebesstory wird dann auch noch gnadenlos verfremdet und umgedreht: so schreibt Onegin wieder mal selbst (siehe Nr. 6) den Liebesbrief Tatjanas an sich. Man kann zur Not verstehen, was die Regie da um sieben Ecken herum meint, aber es treibt die Dramaturgie der Handlung halt total ins Aberwitzige. Ebenso, wenn beim eigentlich ja intimen Schlussduett die Fürstin es zulässt, dass die neureiche Moskauer Schickimicki höhnisch zuschaut! Dem seelisch ohnehin toten Onegin überreicht Gremin dann noch eine leere Pistole, damit nur ja jeder kapiert, wie genial die Regie ist! Nicht nur Puschkins Poesie wird damit peinlich plump gekillt, sondern Tschaikowskys sensible Musik gleich noch dazu. Und dennoch bleibt es spannend: denn Mariss Janson dirigiert und das rettet wenigstens die Musik. Und wie! Denn auch die Sänger sind hervorragend: Krassimira Stoyanov ist für die junge Tatjana zwar schon reichlich zu alt, singt aber mit unvergleichlicher Höhenattacke und Bo Skovhus macht alle eventuellen stimmlichen Zweifel durch seine Ausdrucksgewalt völlig unwichtig. Mein Rat: beim nächsten Mal Augen zu und nur genussvoll hören.
6. Naxos/Opus Arte, ROH, London, DVD/Blu-ray, 2013: „Der verdoppelte Regieblödsinn“
Der Inhalt dieser Oper ist eigentlich recht einfach zu verstehen und nachzuvollziehen. Zu einfach! Das fand wohl der Regisseur Kasper Holten und erfand zu dem Liebespaar junge Doubles. Und jetzt wurde es richtig kompliziert: denn nun schreibt nicht Tatjana den verhängnisvollen Liebesbrief an Onegin, sondern der gedoubelte Onegin schreibt an sich selbst (!), was ja totaler Blödsinn ist. Und die Tatjana steht im Off und singt. So wird die Handlung dauernd auf den Kopfgestellt, bis sie schlussendlich keiner mehr versteht. Es sei denn, es wären im Publikum zufällig einige Theaterwissenschaftler da, die über den höheren Regieblödsinn promoviert haben. Musikalisch dagegen ist alles wirklich erste Sahne: Robin Ticciati dirigiert mitreißend und tiefschürfend, Simon Keenlyside singt trotz altersbedingt stimmlicher Abstriche ebenso großartig wie die höhenstarke Krassimira Stoyanova. Und Pavol Breslik ist ein Lensky wie aus dem Bilderbuch. Für den ergreifendsten Moment der ganzen Aufnahme sorgt am Schluss der Bass Peter Rose als Gremin. Der hört nämlich beim finalen Duett angstvoll zu, ob seine Tatjana wohl bei ihm bleiben wird. Und was sich da in seinem Gesicht an Gefühlen spiegelt, das ist packender als die ganze Inszenierung. Ich bin überzeugt, dass diese Idee nicht von der Regie kam, denn sonst würden um den alten Gremin ja auch noch mindestens einige junge Doubles herum hüpfen.
7. Naxos/CMajor, Warschau und Palau de les Arts, Valencia, DVD/Blu-ray, 2013: „Tatjana im spannenden Regiewunderland“
Nach diesen drei bitteren Enttäuschungen fragte ich mich schon: gibt es denn gar keine überzeugend moderne Inszenierung? Aber ja doch! Und was für eine! Aus Polen kommt sie und begeisterte mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich sie anschaute. Und das auch noch beim 10. Mal. Denn Mariusz Trelinsky gelingt es, mit einem überraschenden Bildkonzept den seelischen Hintergrund der Story sensibel und überaus spannend zu erzählen. Farbmächtige symbolische Bühnenbilder unterstützen ihn dabei. Besonders schön, weil die Bildkomposition nicht nur psychologisch sondern auch noch atmosphärisch äußerst stimmig ist. Ein erzählerischer Trick hilft ihm Spannung zu erzeugen: da geistert als stummer Statist der inzwischen gealterte Onegin rückblickend über die Bühne und zeigt seinem jungen alter Ego, was er jetzt eigentlich hätte tun sollen: zum Beispiel die Tatjana zu umarmen, oder er sich beim Lenski zu entschuldigen. Den singt ebenso stimmschön wie eindrucksvoll der junge Dmitri Korchak. Und dann erst Kristina Opolais, als wunderschöne Erfüllung aller Interpretationsträume vor allem von der jungen Tatjana. Eine schöne und schlanke, aber in der Höhe sehr durchschlagkräftige Baritonstimme hat Artur Rucinsky, der auch optisch geradezu der ideale Onegindandy ist. Bedrückend der raumfüllende Bass Günter Groissbecks, hier als gewollt steiflederner Gremin. Dazu das Dirigierwunder Omer Meir Wellber, der mich hier mehr als alle anderen seiner 7 Kollegen begeisterte.
8. DGG, New York, MET, DVD/Blu-Ray, 2014: „Im Wohlklang baden – Anna Netrebkos Triumph “
Es gibt sie ja, aber sie sind selten geworden, diese einmaligen Momente in der Oper, wenn in einer Szene mal Sänger, Orchester, Regie und Bühnenbild so herrlich harmonieren, dass man sich in einer Spirale der Opernseligkeit bis in den siebten Opernhimmel hinauf schraubt und den Atem anhält vor Spannung. Außer mir schien es noch etwa 4000 Besuchern in der riesigen MET so zu gehen, denn es war kein Laut zu hören, niemand hustete und keiner raschelte. In dieser Aufnahme gab es das gleich zweimal: während der Duellszene und im Finale des 3.Akts. Und danach ergriffene Stille. Keiner brüllte ins Piano Bravo hinein. Anschließend aber brach ein Orkan an Beifall aus. Und schon wegen dieser zwei Szenen, lohnt sich diese DVD. Vergessen ist der etwas uninspirierte Beginn des 1. Aktes, als selbst die Netrebko noch nicht so ganz ihr sonstiges Niveau erreicht hatte. Dann aber zeichnete sie ein ergreifendes Porträt der bei ihr eher introvertierten Tatjana und wächst zum Schluss in dem herrlichen Bühnenzauber zusammen mit Mariusz Kwiecien in geradezu überirdische Dimensionen. Pjotr Beczala bringt einen geradezu heldischen Lenski. Bloß mit Gewehren ging man bei Duellen, wie hier, niemals aufeinander los! Valery Gergiev sorgt wieder für einen berauschend schönen Tschaikowsky-Klang, ohne die Schärfen besonders zu betonen, wie es heute von der Feuilleton-Mafia ja so gelobt wird… Eine Aufnahme, durch die man zum begeisterten Opern Fan würde, wenn man es nicht schon seit Jahrzehnten wäre.
Fazit: Was mich am sog Regietheater oft stört, ist, dass viele Regisseure mehr sich selbst inszenieren als das Werk, da sie sich für Originalgenies halten, die den Komponisten mindestens ebenbürtig eher noch überlegen sind. Während bei der Musik nicht eine Achtelnote geändert werden darf, ist alles andere der Regiewillkür schutzlos ausgeliefert. Nicht dass ich einer konservativ-historischen Werktreue das Wort reden wollte, um Gottes willen, nein! Aber der Geist der Musik und das Wesen der Handlung sollte doch wenigstens respektiert werden. Drei Aufnahmen stehen für mich deshalb an der Spitze: die beiden aus der MET, (3 und 8), auch wegen der einfach nicht mehr zu toppenden Besetzung der Tatjana durch Renee Fleming und Anna Netrebko. Wobei es mir schwerfällt, einen signifikanten Qualitätsunterschied zu finden. Was die eine an überwältigender stimmlicher Pracht bietet, hat die andere an überragender darstellerischer Präsenz. Am besten man erlebt beide. Bei den Onegins dominiert Horostovsky als einmaliger Glücksfall einer stimmschönen Rollenidentifikation. Und auch die beiden Lenskis sind einander, jeder auf seine hervorragende Art, ebenso ebenbürtig, wie die beiden Gremins gleichermaßen stimmschwach und ausdrucksarm sind. Beide Inszenierungen sind im besten Sinn werktreu, und bieten doch ihre eigene Auslegung. Die dritte der von mir favorisierten Aufnahmen (Nr. 7), die aus Valencia, rettet souverän die Ehre des modernen Regietheaters und begeistert mich immer wieder gerade durch die moderne Lesart mit dem psychologisch ausgefeilten Bühnenbild und der genialer Beleuchtungsphantasie. Was tun? Alle drei kaufen, jede ist es unbedingt wert. Und Tschaikowskys geniales Werk kann man gar nicht oft genug hören, Ich habe diese Oper eben beim Vergleich wohl 20-mal gehört und immer wieder aufregend Neues entdeckt.
Peter Klier, 17. Mai 2023