Zweimal AIDA – einmal neu und einmal alt, und beide hochinteressant!
Der Regisseur Peter Stein hatte den lobenswerten Plan, endlich mal eine Aida ohne den ägyptischen Kunstgewerbeplunder zu inszenieren. Bei dem Label Cmajor erschien das Ganze 2015 auf DVD. Und ist unter den fast zwei Dutzend Aidas auf DVD die einzige derartige, sieht man mal von Wilsons ebenso kraftloser wie ästhetischer Rumstehgymnastik ab. So erkannte Stein auch richtig, dass Aida kein Massenpompstück ist, sondern ein Kammerspiel für 3 bis 4 Personen.
Dazu braucht es natürlich singschauspielerisch begabte sensible Darsteller. Und die hatte er beinahe auch gefunden. Was vor allem die beiden Damen an darstellerischerAusdrucksgewalt bieten, verdient alle Bewunderung. Aber nun kommt in der Aida ja auch ein Tenor vor. Und damit beginnt der Ärger. Was um Himmelswillen hat die Verantwortlichen nur bewogen, für solch eine Inszenierung ausgerechnet Fabio Sartori zu wählen? Außer unbeteiligt herumzustehen und völlig gleichgültig zu schauen, hat er doch nur noch seine ungeheure Leibesfülle zu bieten. Manchmal erinnert er mich an den seligen Pavarotti. Aber selbst der war geradezu ein Kammerschauspieler neben diesem Phlegma. So groß ist der Tenormangel doch wirklich nicht, dass sogar die Scala keinen Besseren auftreiben könnte. Selbst die „Holde Aida“ blieb ohne Applaus! Und das in Italien! Umso erstaunlicher dann, was zum Beispiel Anita Rachvelishvili als Amneris in dem herrlichen Duett des 4. Aktes leistet. Sie wuchtet im Alleingang eine solch dramatische Stimmung auf die Bühne, dass man den Dicken an ihrer Seite ganz vergisst. Bewundernswert. Aber auch die aparte Kristin Lewis als Aida füllt ihre beiden Duette im 3. und 4. Akt mit leidenschaftlicher Spannung auf. Und das ohne jede Unterstützung des wieder gleichgültig rumstehenden Tenors. Dass sich seinetwegen gleich zwei Frauen fetzen sollten, ist unvorstellbar. Amonasro (George Gagnize) und Ramfis (Matti Salminen) röhren ihre Partien mit beeindruckender Stimmgewalt, zu mehr waren sie wohl nicht in Stimmung. Zubin Metha zelebriert ungeheuer souverän und routiniert seine wohl hunderttausendste Aidavorstellung. Großartig aber auch die konzentriert stimmungsvollen aber schnörkellosen Bühnenbilder von Ferdinand Wögerbauer.
Außerordentlich ist die Entstehung der zweiten Aufnahme, die nun schon 15 Jahre alt ist und immer noch frisch und jung wirkt: zu einem Workshop hatte Carlo Bergonzi 2001 junge Sänger nach Busetto eingeladen, mit ihnen hart gearbeitet und das tolle Ergebnis der Aufführung zum 100. Todestag Verdis als DVD bei ARTHAUS vorgelegt. Und man kommt aus dem Staunen nicht heraus! Sicher, die Stimmen sind alle noch sehr lyrisch und relativ klein. Doch das störte in dem Theaterchen mit gerade mal 380 Plätzen überhaupt nicht. Aber welche künstlerische Ausdrucksreife wurde da erreicht! Da standen die Jungen den großen Stars kaum nach, und das zeigt wieder einmal, wieviel Marketing bei mancher großen Karriere doch mit im Spiele ist. Nun singen und spielen die 4 aber auch als ob es um ihr Leben ginge, dabei sind sie noch nicht mal 25 Jahre alt. Wie die aparte Adina Aaron als Aida im Nil Akt den Radames einwickelt, das ist in keinem erotischen Kinothriller besser zu sehen. Und dieser Tenor macht auch glaubhaft, dass die Damen sich um ihn streiten. Denn Scott Piper singt nicht nur toll, wenn auch damals noch rein lyrisch, was beim dramatischen Schluss des 3. Aktes schon auffällt. Er spielt auch noch fantastisch und sieht zu allem Überfluss auch noch so aus wie einer, der Frauenherzen reihenweise brechen könnte.
Die damals gerade mal 23!!! Jahre alte Kate Aldrich als Amneris steht den beiden anderen nicht nach an intensivem Spiel. Natürlich hat sie z.B. für den Beginn des 4. Aktes die großen Töne noch nicht, wie sie ihre Kollegin auf der anderen Aufnahme mühelos aus ihrer Kehle holt. Ihr eindrucksvolles Singen reißt trotzdem mit. Kein Wunder, dass sie inzwischen, wie auch die anderen, an den großen Opernhäusern singt und auch auf DVDs und CDs vertreten ist. Erst neulich feierte sie als Carmen mit Jonas Kaufmann in Orange Triumphe. Und aus dem damals noch sehr lyrischen Scott Piper ist jetzt ein eindrucksvoller Otello geworden. Adina Aaron singt ihren Verdi und Puccini überall noch mit derselben erotischen Spannkraft wie damals. Giuseppe Gara hat es dagegen viel schwerer, eine solch komplexe Persönlichkeit wie den Amonasro als junger Sänger darzustellen und zu singen. Da ist die fehlende Heldenbaritonstimme halt durch noch so große Begeisterung nicht zu ersetzen. Massimiliano Stefanelli holt aus dem kleinen, meines Wissens ad hoc zusammengestelltem, Orchester alle Spannung und allen Schönklang heraus, den Verdi braucht. Man meint der Geist des Alten hätte alle an diesem Ort befeuert. Wie groß Zefirellis Verdienst an dem Wunder ist lässt sich schwer feststellen, seine erfahrene Regiehand hat sicher viel geholfen. Aber das Supertalent haben die 4 wohl schon mitgebracht. Wer das unaufdringlich schöne aber völlig traditionell gestaltete Bühnenbild entworfen hat, geht aus dem Cover nicht so klar hervor, die schicken Kostüme sind von Anna Anni.
Schwer ein Fazit zu ziehen? Überhaupt nicht! Einfach beide zu kaufen. Es lohnt sich! Denn beide Aufnahmen haben ja ihre Meriten: Wer junge überrumpelnd eindrucksvolle Singschauspieler fern jeder Routine erleben will, wird von der Aufnahme bei ARTHAUS voll begeistert sein. Ich kenne keine, bei der so oft jubelnder Szenenapplaus ertönt. Und so wie der Funke auf das im Theater anwesende Publikum übergesprungen ist, springt er sogar auch noch beim Ansehen der DVD über. Und man fühlt sich wieder so jung und glücklich wie in den ersten seligen Opernjahren, als wir vor Begeisterung und Opernglück bei jedem Theaterbesuch beinahe gestorben sind und uns beim Applaus heiser gebrüllt haben. Bravo!
Die Aufnahme bei Cmajor wäre dagegen völlig konkurrenzlos als einzige, wenn auch nur halbwegs, „moderne“ Inszenierung ohne Ägyptisches Kunstgewerbekolorit. Wenn es halt das schauspielerische Tenorfiasko nicht gäbe. Sie ist dennoch die einzige Lösung auf DVD für alle, die es wenigstens etwas „moderner“ wollen. (An die neueren Aidadeutungen trauen sich die Labels wohl nicht so richtig ran, offenbar zu Recht befürchtend, dass das Aidapublikum auf sein ägyptisches Kolorit halt nicht verzichten will. Da wäre sonst zum Beispiel die in Leipzig 2008 von Peter Konwitschny wieder aufgewärmte uralte Aida von 1997 aus Meinigen/Graz zu nennen. Oder die von Gürbaca aus Zürich oder…oder….
Peter Klier, 11. Mai 2023