Premiere am 3. November 2017
Völlig ungewohnte Sicht auf „Carmen“
Schon beim Vorspiel wird dem Besucher dieser „Carmen“-Premiere in der Nationaloper Sofia klar, dass es sich um eine ganz und gar ungewohnte Interpretation des Meisterwerks von Georges Bizet handelt. Flashartig sieht man vor pechschwarzem Hintergrund einmal den weiß maskierten Chor in schwarzen Gewändern, dann eine Gruppe von Flamencotänzern; daraufhin drei Moirai, also griechische Schicksalsgöttinnen, hier von Männern gespielt, jeweils mit einem langen Seil, und schließlich Carmen, Don José und Micaela auf einer roten Scheibe im Mittelpunkt der Bühne, alle drei mit diesen Schicksalsseilen verwoben. Es wird sofort klar, Plamen Kartaloff, dem Generaldirektor der Nationaloper Sofia und Regisseur dieser Neuinszenierung, geht es um die Darstellung, ja intensive Thematisierung der miteinander verbundenen Schicksale dieser drei Protagonisten. Dabei nimmt er Anlehnung an die griechische klassische Tragödie, indem er deren drei zentrale Komponenten hervorhebt: Musik, Text und die Bewegung des Theaters. Kartaloff zitiert aber auch das alte japanische Noh-Theater, insbesondere in Form der weißen Masken des Chores, denn im Noh-Theater tragen die Hauptdarsteller meistens eine Maske. Das antike griechische und das alte japanische Noh-Theater bildeten für ihn einen Grund dafür, sich von allen gängigen Klischees zu trennen, die man gemeinhin mit einer Aufführung einer „Carmen“ verbindet, also u.a. der Zigarettenfabrik, der Kneipenästhetik bei Lillas Pastia, oder der Stierkampfarena. Bei Lillas Pastia zeigt die Oper Sofia mit einem effektvollen Ballett, über welch hochklassige Ballettkompanie sie verfügt.
Stattdessen gibt es eine vollständige Konzentration auf das Schicksal der Protagonisten Carmen, Don José und Micaela, was durch ihr Auftreten auf der rotierenden Scheibe optisch und dramaturgisch akzentuiert wird. Bei Auftritten Carmens und Don Josés kommen immer wieder die Moirais mit den drei Schicksalsseilen dazu. Und das wirkt nun bisweilen doch etwas Wagnerisch, die Nornenszene aus der „Götterdämmerung“ lässt grüßen. Diese Assoziation mag nicht allzu weit hergeholt sein, wenn man an die Begeisterung Plamen Kartaloffs für das Werk Richard Wagners denkt. Doch nochmal zu der Scheibe: Eigentlich ist sie die Oberfläche eines Zylinders, der durch seine Rotation immer wieder auch eine schiefe Ebene produziert und damit die jeweilige emotionale Lage der Akteure auch noch optisch untermalt. Seitlich und hinten um dieses Rondell herum befinden sich drei schwarze Tribünen wie in einem griechischen Amphitheater, von denen aus der maskierte Chor das Geschehen auf dem Rondell beobachtet und singend kommentiert. Damit kommt ihm in dieser Inszenierung eine weit größere dramaturgische Bedeutung zu als in einer konventionellen „Carmen“- Inszenierung. Im Vordergrund gibt es noch eine wiederum rote halbrunde, teilbare Spielfläche, auf der sich das Nebengeschehen abspielt, so zum Beispiel ein eher abstrakter Tanz von sechs Balletteusen wegen der Aufregung um Carmens Verletzung einer der Zigarettenarbeiterinnen. Vielleicht kommt diese Szene in dem im Endeffekt auf einen hohen Abstraktionsgrad abstellenden Regiekonzept etwas zu kurz, wie auch die Auftritte von Frasquita und Mercedes einerseits sowie von Dancairo und Remendado andererseits. So bedeutsam das Rondell für die Auftritte der Protagonisten ist, es engt doch den Spielraum für die Nebenfiguren ein.
Dieses Manko wird jedoch weitgehend durch die gute Choreografie von Antoaneta Alexieva und Svetlin Ivelinov wettgemacht. Das jedenfalls bestens auf das Regiekonzept von Plamen Kartaloff abstellende Bühnenbild wurde von Miodrag Tabacki geschaffen und die ebenfalls dazu passenden Kostüme von Hristiyana Mihaleva-Zorbalieva. Andrej Hajdinjak ist für die stimmungsbetonte Lichtregie verantwortlich, die gelegentlich im Hintergrund eine blaue Scheibe sehen lässt, die später nach Rot changiert. Die gesamte Optik wird von Schwarz-, Rot- und Grautönen beherrscht, in denen sich die weißen Masken des Chores effektvoll abheben und eine größere Dynamik bewirken. Fast durchgängig vermitteln die Bilder eine vornehmlich tragische Grundstimmung mit Blick auf das Schicksal Carmens.
Der erste dramatische Höhepunkt dieser „Carmen“ ist Nadia Krasteva s Auftritt in der Titelrolle mit der Habanera auf dem Rondell. Mit der Intensität ihrer Darstellung und stimmlichen Aussage macht sie sofort klar, dass es an diesem Abend vor allem um sie und ihr Schicksal geht. Und Krasteva setzt den ganzen Abend über das um, was der Regisseur in Carmen sieht: eine tragische und einsame Figur, total unabhängig und isoliert. Für ihn ist „Carmen“ eine Tragödie der Persönlichkeit, bestimmt durch ihr Schicksal, dem sie nicht entrinnen kann, das für sie vorbestimmt ist. Und hier kommen eben die Moirai, die drei Schicksalsgöttinnen, ins Spiel. Carmen sieht die Welt als unpersönlich und seelenlos, sie zieht die Einsamkeit vor. Liebe und Freiheit sind für sie wichtiger als das Leben, und so resigniert sie auch nicht vor dem drohenden Tod. Diese Charakterisierung der Carmen gelingt mit der in dieser Rolle überaus erfahrenen Bulgarin Krasteva aufs Eindrucksvollste! Mit ihrem ausdrucksstarken und variationsreichen Mezzo und ihrem authentischen Spiel treibt sie sich selbst und Don José immer weiter in die Katastrophe, in jedem Moment vollständig nachvollziehbar. Kartaloffs intensive Personenregie trägt das ihre dazu bei. So umarmt sie José am Ende der Habanera nahezu inbrünstig und hinterlässt eine rote Rose auf dem Rondell, die dort den ganzen Abend demonstrativ zu sehen ist – weit mehr als die „fleur que tu m´avais jetée“…
Kostadin Andreev, der junge Siegfried des Sofioter „Ring des Nibelungen“, ist Don José und spielt ihn ebenso wie jenen mit großer darstellerischer Intensität und Emphase. Sein schön baritonal unterlegter, zum Heldischen neigender Tenor hat durchaus das erforderliche Potenzial für den Don José. Er wirkte an diesem Abend jedoch etwas müde, es fehlte der Stimme etwas an Geschmeidigkeit, und einige Höhen kamen leicht forciert. Wenn man bedenkt, dass es Andreevs Rollendebut war, wird er mit seinem guten Potenzial sicher noch weiter an der Partie arbeiten. Tsvetana Bandalovska singt und spielt die Micaela mit ihrem wohlklingenden und höhensicheren Sopran mit viel Empathie für Don José, und der Regisseur wies ihr unter den drei zentralen Protagonisten auf dem Rondell auch eine stärkere Rolle zu. Man hatte den Eindruck, dass ihre Stimme mit der Sieglinde im „Ring“ etwas schwerer und damit ausdrucksvoller geworden ist. Veselin Mihaylov gibt den Escamillo darstellerisch etwas zu verhalten. Sein Bariton verfügt nicht über die gewünschte Klangfülle für die Rolle, klang bisweilen etwas fahl. Er hatte seine besten Momente gegen Ende des 3. Akts. Ilia Iliev und Krasimir Dinev spielen und singen die Schmuggler Dancairo und Remendado mit guten tenoralen Farben, während Silvana Pravcheva und Georgana Petrova als Frasquita und Mercédès überzeugen können. Der Sergeant Moralès ist mit dem jungen Atanas Mladenov luxuriös besetzt, der immerhin den Amfortas in der Sofioter „Parsifal“-Produktion dieses Jahr gesungen hat. Den Zuniga singt Svetozar Rangelov aus dem Hintergrund solide.
Violeta Dimitrova hatte den Chor wie immer gut einstudiert und diesmal der besonderen Rolle des Ensembles im Sinne der griechischen Tragödie Rechnung zu tragen.
Der junge Japaner Keitaro Harada dirigierte das gut vorbereitete Orchester der Nationaloper Sofia mit großem Engagement und Temperament. Dennoch gerieten einige Tempi zu langsam, insbesondere wenn man an die Dynamik der „Carmen“ denkt. Am Schluss überlebt Carmen den Messerstoß Don Josés und hält in einer Art Siegerpose die rote Rose in die Höhe. Sie hat mit ihrer Überzeugung, dass Liebe und Freiheit wichtiger sind als der Tod, gesiegt. Ein großer vertikaler Spiegel reflektiert die Botschaft ins Publikum. Ein ungewöhnlicher, aber zum Regiekonzept vollkommen passender Schluss. Die Produktion wird im kommenden Jahr in Japan gastieren.
Klaus Billand 13.11.2017
Fotos (C) Svetoslav Nikolov