Konträre Orchesterwelten
Zwei Orchesterkonzerte – zwei Orchesterwelten – zwei profilierte Dirigierpersönlichkeiten – die Styriarte hat auch auf dem Gebiete der großen Orchesterliteratur Interessantes zu bieten!
Im klassischen großen Konzertsaal von Graz gab die Ukrainerin Oksana Lyniv, ab Herbst Chefdirigentin der Oper Graz und des Grazer Philharmonischen Orchesters, ihr bejubeltes Grazer Konzertdebüt – allerdings nicht mit ihrem zukünftigen Orchester, sondern mit dem styriarte Festspiel-Orchester. Dieses Orchester besteht im Grunde aus dem im Jahre 2002 gegründeten recreation-orchester Graz mit einigen Gästen in den Stimmführerpositionen. Auf dem Programm standen wesentliche Teile der Nussknacker-Suite und der Schwanensee-Suite von Peter Iljitsch Tschaikowski. Die Musik wurde ergänzt – eigentlich ist man versucht zu sagen: zerrissen – durch Lesungen aus den Texten, die den Ballett-Werken zugrunde liegen. Und dieses Konzept erwies sich als ein Schwachpunkt des Abends. Der ständige Wechsel zwischen Musik und Lesung zerriss sowohl den musikalischen als auch den literarischen Zusammenhang und Spannungsaufbau. Dazu kam, dass die renommierte Filmdarstellerin Nora Waldstätten die Texte – speziell bei E.T.A. Hoffmanns Weihnachtserzählung „Nussknacker und Mausekönig“ – mit allzu neutral-kühler Stimme las.
Tschaikowskis weltberühmte Ballett-Musik – speziell bei Schwanensee, aber natürlich auch im Blumenwalzer aus dem Nussknacker – lebt vom schwärmerisch-üppigen, laut Adorno gar kitschigen Orchester- insbesondere Streicherklang. Den erlebte man an diesem Abend nicht.
Oksana Lyniv vermittelte uns mit elegant-energischer Zeichengebung ein straffes Klangbild und klare Strukturen. Vielleicht ist das bei den Möglichkeiten dieses Orchesters der richtige Ansatz – erwärmen konnte man sich jedenfalls nicht so recht. Man kann gespannt sein auf Lynivs erste Opernpremiere – Tschaikowskis Eugen Onegin im Dezember 2017. Eines steht jedenfalls fest: die energische junge Dame hat das Publikum für sich eingenommen – der Beifall war groß! Und ein zweites Faktum steht auch fest:
Styriarte-Intendant Mathis Huber versteht es, junge Talente zu finden und zu gewinnen. Das Engagement von Oksana Lyniv zur Styriarte 2017 erfolgte lange vor ihrem ersten Gastauftritt in der Grazer Oper im Oktober 2016 und vor ihrer Bestellung zur Chefdirigentin im Februar 2017 (über beides berichtete hier der Opernfreund).
In einem lesenswerten Interview erklärte Intendant Mathis Huber schon im Vorjahr überzeugend, warum er auf der Suche nach dirigierenden Frauen ist. Dieser Abend bewies jedenfalls, dass der Intendant auf dem rechten Weg war und ist.
Hier kann das Konzert 7 Tage lang auf OE1 nachgehört werden.
Südamerikanisches Feuer und Strawinskis Sacre du Printemps
Nach sechs Konzerten in Deutschland beendete das im Jahre 2010 gegründete Colombian Youth Philharmonic Orchestra – oder wie es im Original heißt: La Filarmónica Joven de Colombia – seine erste Europatournee mit zwei Styriarte-Konzerten in der Helmut-List-Halle.
Schon die animierte Konzerteinführung durch Intendant und Dirigent ließ Unkonventionelles erwarten: vor der Pause effektvolle, wenn auch vielleicht allzu plakativ-reißerische lateinamerikanische Musik des 20.Jahrhunderts – und so wie im vorigen Sommer in Frankfurt war da auch diesmal das Publikum zum Mitmachen eingeladen. Das Programmheft schreibt dazu:
Muschelhörner und Vogelpfeifen: Der junge peruanische Komponist Jimmy López eröffnet sein Orchesterstück „América Salvaje“ mit zwei Dutzend dieser Inka-Instrumente. Im letzten Sommer waren sie der Renner beim Open-Air-Konzert des hr-Sinfonieorchesters in Frankfurt, weil sie Andrés Orozco-Estrada nicht nur von den Profis im Orchester, sondern auch von Kindern und Eltern im Publikum spielen ließ. (Hier ist das Video aus Frankfurt und hier eine Live-Minute aus dem Grazer Konzert) Vor 500 Jahren füllte ihr Klang die Täler der Anden, bevor die spanischen Eroberer kamen. Die Christen aus Europa werden durch einen bedrohlich heranmarschierenden Choral der Blechbläser symbolisiert, die Sklaven aus Afrika durch eine ganze Schlagzeug-Batterie. So hat Jimmy López, Jahrgang 1978, in seinem zwölfminütigen Orchesterwerk „Wildes Amerika“ die Geschichte seiner Heimat Peru erzählt.
Der Dirigent hatte Mühe, das mitmachfreudige Publikum zu bändigen und zu einem werkgerechten Einsatz anzuleiten – einige wollten ihre wassergefüllten Vogelpfeifen gleichsam als ein Continuo fast pausenlos betätigen. Aber letztlich klappte es doch ganz gut.
Zuvor war das Konzert knallig eröffnet worden: mit Escaramuza der multikulturellen Komponistin Gabriela Lena Frank – ein Ergebnis ihrer Auseinandersetzung mit lateinamerikanischer Folklore. Dann gab es noch Sensemayá – ein fetziges Stück für großes Orchester des mexikanischen Komponisten Silvestre Revueltas und zuletzt vor der Pause die Suite aus dem Ballett „La Estancia“ des Argentiniers Alberto Ginastera. Auch hier war wieder Publikumsmitwirkung gefragt – dem charmant und wortreich moderierenden Dirigenten war es gelungen, eine Dame aus dem Publikum zu animieren, die verbindenden Texte zwischen den Suiten-Teilen zu lesen – die Dame machte das übrigens ausgezeichnet.
Das Programmheft bezeichnet den Dirigenten Andrés Orozco-Estrada nicht zu Unrecht als „tanzenden Schamanen inmitten der
gut 100 ekstatischen jungen Musiker aus seiner Heimat Kolumbien“. Es gelang dem Dirigenten schon im ersten Programmteil mit ungeheurem, aber durchaus werkgerecht-lebhaftem Körpereinsatz sein jugendliches Orchester und das Publikum zu begeistern.
Nach der Pause folgte dann das Hauptwerk des Abends und natürlich ein Prüfstein für das jugendliche Orchester: Le Sacre du Printemps von Igor Strawinski. Es ist ein wahrhaft faszinierendes Werk – der renommierte Münchner Journalist Walter Panofsky schrieb einmal dazu: Die meisten Themen sind kurze Floskeln aus vier Tönern. Nur die Melodie des Anfangs, vom Fagott in extremer, hoher Lage geblasen (diesmal übrigens sehr ordentlich!), stammt aus einem litauischen Volkslied. Das Themenmaterial wird aufgespaltet, rhythmisch verändert, zusammengeschweißt und wieder getrennt….Es gibt keinen „schönen“ Klang, sondern nur barbarische Klangexplosion. Unerbittlich treiben die Rhythmen das Geschehen voran: zum ersten Mal in der Musikgeschichte siegt das rhythmische Element über das melodische.
Das ganz groß besetzte kolumbianische Jugendorchester (8 Kontrabässe, 8 Celli und wohl an die 30 Violinen) spielte die schwierige Partitur mit eminentem Einsatz – vom Dirigenten souverän zusammengehalten.
Das Besondere dieser Aufführung war, dass den Orchestermusikern auch die Bewegungsgestaltung übertragen war. Ich gestehe, dass ich nach Betrachtung des Trailers ein wenig skeptisch war, ob das nicht ein wenig dilettantisch und von der Musik ablenkend werden würde – aber dann hat mich das Ergebnis überzeugt:
Nichts war vordergründig-illustrierend, man hatte den Eindruck, dass alles aus dem unmittelbaren Empfinden der Musik kam. Die junge Musikerschar leistete wirklich Erstaunliches in der Verbindung von ernsthaftem Musizieren und Bewegung. Der Grazer TV-Probenbericht gibt einen ausgezeichneten Eindruck dessen wieder, was angestrebt und tatsächlich erreicht wurde. Schade nur, dass man dem Programm nicht entnehmen konnte, von wem die sehr professionelle Choreografie und die Lichtregie stammen.
Das Publikum war begeistert – diese Begeisterung setzte sich im Foyer nach dem Konzert fort: die jungen kolumbianischen Musikerinnen und Musiker spielten und tanzten – das Publikum ließ sich von dieser Lebensfreude gerne anstecken!
6. 7. 2017, Hermann Becke