Die schönste Oper mit dem dümmlichsten Libretto
Eine Aufnahme zum Träumen!
Wie löst man das Problem mit einer Oper voll solcher Unwahrscheinlichkeiten in der Handlung? 1976 setzte man sie an der MET einfach naiv und ohne alle kritischen Zweifel in Szene und zwar in naiv wunderschönen Bühnenbildern. Und es wurde ein naiv wunderschöner Opernabend. 30 Jahre später gelingt die Wiederaufnahme ebenfalls wunderbar, denn man hatte jetzt mit Anna Netrebko eine echte Superbesetzung. Und wer mag da noch an der Inszenierung herummäkeln? Wie schön, dass es von dieser Superaufnahme 2 DVDs gibt. Ein Erlebnis zum Träumen, zum Abheben, zum Seele baumeln lassen und zum Glücklichsein. Neben Netrebko haben es aber die anderen Sänger nicht einfach. Eric Cutler, der inzwischen Lohengrin und Kaiser singt, war ein sehr guter Arturo, mit leichten Höhen und ausdrucksvollem Gesang. Ein Pavarotti aber ist er halt nicht. Doch das sind die anderen Arturos auch nicht. Franco Vasallo und John Relyea beweisen das hohe Niveau der MET in den kleineren Rollen und über die Sängerin der Königin breite ich mal den Mantel der christlichen Nächstenliebe. Patrick Summers dirigiert recht mitreißend und gibt den Sängern auch noch eine sehr solide Basis. Und so sind die Jubelstürme am Schluss durchaus ansteckend, auch für den Zuschauer zu Hause.
Der Triumph der alten Dame
Wenn ich es nicht nachgelesen hätte, würde ich es nicht glauben: Edita Gruberova war bei dieser Aufnahme tatsächlich schon 55 Jahre alt. Wo Junge schon ihre liebe Mühe haben mit der vertrackten Höhenlage der Partie, da triumphiert sie, wenn auch nicht mehr so ganz mühelos wie in ihren Jugendjahren, aber doch noch ungeheuer eindrucksvoll. Und sie singt nicht nur virtuose Koloraturen sondern emotional erfüllte Seelentöne. Jose Bros war damals mit Mitte 30 und ein Belcantoexperte, der von Alfredo Kraus viel gelernt hatte. Carlos Alvarez als schönstimmig dominierender Riccardo fast schon überbesetzt. Die Inszenierung ist sparsam und klar. Zum Beispiel die zerbrochene Kutsche in der Schneelandschaft als leicht verständliches Symbol der total verfahrenen aussichtslosen Situation. Ansonsten wird hier halt die menschliche Stimme gefeiert und die Schönheit der Musik. Und das ist gut so. Denn wie könnte man Bellini auch besser gerecht werden? Schließlich geraten die Opernfreunde ja bis heute wegen der großartigen Musik in Begeisterung und nicht wegen der sinnfreien Handlung seiner fürchterlichen Librettoungetüme!
Das blaue Wunder von Bologna
Das passiert mir ja nur sehr selten, dass ich von einer DVD Aufnahme so mitgerissen werde, dass Zeit und Raum verschmelzen und ich abhebe und sich schönstes Opernglück zu Hause im Wohnzimmer einstellt. Halleluja! Das Wunder geschah mir bei dieser Aufnahme! Die herrlich blauen surreal leuchtenden Bühnenräume, die schwelgerische Musik vom Orchester unter Michele Mariotti voll ausgekostet, und zwei Stimmen, die sich zum absoluten Schönklang verbanden. Und wie sie nicht besser für den Zauber des Bellinischen Melos zu finden sind: die anmutig mit ihrer Rolle total verschmelzende Nino Machaidze und Juan Diego Florez mit seiner ausdrucksvolle Stimme und ihrem wunderschönen Timbre. Auch die kleineren Rollen sind üppig besetzt mit Ildebrando d’Arcangelo und Gabrieli Viviano Folglich rauscht auch immer wieder und endlos lange der verdiente Riesenapplaus des begeisterten Publikums auf. Die Regie von Pier’Alli (von dem auch die herrliche Bühnenbilder sind) ignoriert kluger Weise den Unsinn der Handlung einfach und setzt völlig zu Recht auf die Überzeugungskraft der Musik. Wer eine Bellini–Oper besucht, will schließlich meistens nur Melodien schlürfen und nicht die Handlung intellektuell hinterfragen.
Bellini mal ganz ohne die Superstars
Bekanntlich sangen die Tenöre der Zeit des Belcanto die superhohen Töne nicht mit voller Stimme, sondern im Falsett. Als Gilbert Duprez 1837 zum ersten Mal ein Hohes C, wie heute üblich, mit voller Stimme, sang und nicht als Falsettton, gab es eine Sensation und viele Damen fielen vor Schreck in Ohnmacht. Für die nachfolgender Tenöre aber hat er ein Riesenproblem geschaffen: wer kann es auch? Umso mehr staune ich heute, wieviel Tenöre die unglaublichen Höhenflüge des armen Arturo nicht nur wagen, sondern sogar auch noch glänzend schaffen, und ganz ohne zu knödeln! Und dabei noch gar nicht mal so berühmt sind, wie sie es eigentlich verdient hätten. John Osborn ist so ein unerschrockener Ritter des Hohen C, der im Belcanto-Fach immer dann auftritt, wenn Florez keine Zeit hat oder zu teuer ist. Vielleicht ist er nicht ganz so schön wie der Diego, und hat auch nicht dessen Timbre, aber großartig singen kann er auch, und ob! Mariola Cantarero ist als Elvira optisch schon etwas gewöhnungsbedürftig. Das junge Mädchen glaubt man ihr kaum. Schon gar nicht in der so ungeschickten Kostümierung, die man fast als Beleidigung bezeichnen könnte. In ihrer sehr gut aufgebauten und gestalteten Wahnsinn Szene macht sie dann aber doch alles wieder gut. Neben den anderen Superaufnahmen hat es diese nicht leicht zu bestehen, obwohl sie ja durchaus ihre Meriten hat. Aber leider ist halt das „sehr gute“ schon immer der schlimmste Feind des „guten“ .gewesen.
Die bedingungslose Kapitulation des Kritikers
Trotzdem ich diese Aufnahme mindestens ein Dutzend Mal anhörte, kann ich mich nicht entscheiden, ob nun der Damrau oder dem Camarena die Krone gebührt. Aber was soll auch die alberne Qualifizierung? Beide sind so unglaublich gut, dass ich sie nur bewundern kann. Seit der legendären Sutherland hörte ich eine derart souveräne Meisterung dieser im wahrsten Sinn wahnsinnigen Partie nicht mehr. Ja, sie übertrifft die Australierin sogar noch mit ihrer intensiv emotionalen Gestaltung. Nun war das ja ohnehin deren Schwachpunkt. Camarena singt mit einer derart stupenden Sicherheit wie ich sie seit Alfredo Kraus nicht mehr hörte. Und auch er übertrifft den großen Meister, und zwar an hingebungsvoller Ausdrucksstärke. Da kommt keiner der anderen 5 Arturos auch nur annäherungsweise mit. Da auch Tezier in der undankbaren Rolle des Riccardo voll überzeugt und Evelino Pido ein ebenso routinierter wie feuriger Dirigent ist, bleibt musikalisch nicht der geringste Wunsch offen. Und selbst an der Bühne (Emilio Sagi) gibt’s nichts auszusetzen. Die kalte Schneelandschaft mit dem romantischen Vollmondwald ist von poetischem Reiz und passt ebenso gut zur Musik wie die bewegten Riesenschatten und Schleier wenn Elvira ausrastet. Die krause Handlung zu verbessern, neben der die des Trovatore ja noch von eiskalter Logik ist, das hat man klugerweise erst gar nicht erst versucht.
Bellini mal zum Nachdenken
Endlich mal ein Regieteam, das diese völlig unglaubhafte und schlimme Opernstory verdaulicher zu machen versucht: Elvira scheitert hier nicht an ihrer Hysterie, sondern an der brutal verbiesterten Gesellschaft, in der sie leben muss. Die Realisierung dieses ja ganz interessanten Regie-Ansatzes bringt aber sofort das nächste Problem: diese Story mit ihren brutalen Realismen passt jetzt überhaupt nicht mehr zu Bellinis Edelmusik! Zumal die üblichen Übertreibungen des Regietheaters frei Haus mitgeliefert werden. So wird Elvira zum elegisch zart säuselnden Finale des 1. Akts gleich mal öffentlich (!) vergewaltigt, während sie mit ihren Puppen (!) spielt. Dazu ist dann die hässliche Ästhetik der Bühnenbilder von Anna Viebröck eigentlich schon wieder passend. Wenn man bereit ist, das alles zu akzeptieren, dann wird allerdings die krause Handlung tatsächlich recht packend. Denn die Personenführung ist wie immer bei Wieler/Morabito gekonnt und spannend. Zumal ja außerdem auch noch sehr sehr ordentlich gesungen wird. Ana Durlovskis Elvira steht den großen Namen kaum nach und überzeugt mit hingebungsvollem auch gestalterisch großartigem Totaleinsatz. Rene Barbera bleibt der Hochtonschwelgerei des Arturo nichts schuldig und ironisiert das übertriebene Heldentum recht gekonnt. Und der ausdrucksstarke Adam Palka macht aus der kleinen Rolle des Giorgio beinahe eine Hauptpartie. Aber warum nur ist er geschminkt wie Prof. Dr. Börne aus den Münsteraner Krimis? Der Dirigent Giulino Carella schwelgt wunderbar im Bellinischen Melos, dessen akustische Wonnen mit der harten Action auf der Bühne versöhnen. Diese Aufnahme ist von nicht zu überschätzender Bedeutung: ist sie doch der einzige Versuch, eine moderne Sinngebung für das krause Bühnengeschehen zu finden.
Fazit: Die Aufnahmen aus New York (Netrebko), Bologna (Florez und Machaidze) und Madrid (Damrau und Camarena) sind in der künstlerischen Qualität wohl gleichwertig, da geben der persönliche Geschmack und die Sängerpräferenz den Ausschlag. Wer nicht nur Arien schlürfen will, sondern sich ein interessantes Regieerlebnis zutraut, das bestimmt nicht immer erfreulich ist, aber durchwegs packendes Musiktheater bietet, dem sei die Stuttgarter Aufnahme wirklich dringend empfohlen.
Peter Klier, 26. Mai 2023