Besuchte Aufführung: 29.6.2017, (Premiere: 27.5.2017)
Neue Sachlichkeit, Stilisierungen und Faschismus
Begleitend zum diesjährigen Goldstadtjubiläum war am Theater Pforzheim die Oper „Cardillac“ von Paul Hindemith zu erleben. Das war eine treffliche Wahl, geht es in diesem Werk doch um einen besessenen Goldschmied, der sich von seinen Meisterwerken nicht trennen kann. Aus diesem Grunde ermordet er hinterrücks jeden Käufer seiner Schmuckstücke. Zur Aufführung kam die Ur-Fassung von 1926. Das Stück, für das Ferdinand Lion das Libretto verfasste, geht auf E. T. A. Hoffmans Novelle „Das Fräulein von Scuderi“ zurück. Diese Figur kommt bei Hindemith und Lion indes gar nicht vor. In der Oper steht Cardillac im Mittelpunkt.
Hans Gröning (Cardillac)
Hindemith hat eine Musik geschrieben, die auf der sog. „Neuen Sachlichkeit“ beruht. Dieses von Gustav Friedrich Hartlaub im Jahre 1923 für Tendenzen der Bildenden Kunst entwickelte Prinzip wurde damals schnell auf die Musik übertragen und zeichnet sich durch große Nüchternheit, Prägnanz, Überschaubarkeit und formale Festgefügtheit aus. In seiner Zeit galt Hindemith als ausgesprochener Neutöner. Diese Titulierung relativiert sich jedoch, wenn man die Musik hört. Seine Klangsprache ist in keiner Weise „schräg“, sondern durchaus tonal gehalten. Er nimmt Anleihen bei alten Formen, wie beispielsweise dem Barock, und verwendet polyphone Strukturen. Schöne lyrische Passagen korrespondieren mit ausgemacht dramatisch anmutenden Stellen, zu denen nicht zuletzt das Schlagwerk seinen Teil beiträgt. Bei GMD Markus Huber und der versiert aufspielenden Badischen Philharmonie Pforzheim war das Werk in guten Händen. Spannungsgeladen und mit hoher Ausdrucksintensität arbeiteten Dirigent und Orchester das Expressive der Partitur trefflich heraus, wobei sie den Klangapparat stark aufdrehten.
Franziska Tiedtke (Tochter), Hans Gröning (Cardillac)
Gelungen war die Inszenierung von Intendant Thomas Münstermann, der auch für das Bühnenbild verantwortlich zeigte. Dem Programmheft lässt sich der Grundgedanke des Konzepts entnehmen: Ihm ging es darum, die konstruktivistischen Elemente der 1920er Jahre aufzugreifen und das Strukturelle sichtbar zu machen. Wenn man sich seine Inszenierung ansieht, fühlt man sich in die Stummfilmzeit versetzt, eben in die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Das Ganze ist in ein nüchternes Schwarz-Weiß-Ambiente gehüllt, was eine Atmosphäre ganz eigener Art ergibt, die jedoch zu dem Kontext hervorragend passt. Bereits zu Beginn erblickt man geometrische Formen. Auf den Vorhang werden weiße Vierecke, Rechtecke und Trapeze projiziert, die sich immer wieder ineinander schieben. Dann wird die Silhouette eines schwarzen Körpers mit erhobenem Dolch sichtbar – Cardillac, der auf Mord aus ist. Mit Projektionen wird auch im Folgenden viel gearbeitet. Die ansprechenden Videoprojektionen stammen von Philipp Contag-Lada.
Chor und Extrachor des Theaters Pforzheim
Der das Volk darstellende, sich in stilisierten Bewegungen ergehende Chor ist ebenfalls schwarz-weiß gewandet. Auch die von Alexandra Bentele kreierten Kostüme sind stilisiert. Darüber hinaus tragen die Choristen schwarze Masken und Melonen in der gleichen Farbe. Hier haben wir es gleichsam mit einer anonymisierten Masse bar jeder Individualität zu tun, die angesichts des unbekannten Massenmörders in Angst und Schrecken verfällt. Eine konkrete Verortung nimmt Münstermann nicht vor. Das Stück spielt zwar in Paris, hier könnte das abstrakte, aus verschiebbaren Wänden und Treppen gebildete Bühnenbild aber jede Großstadt darstellen. Das Ganze mutet nicht immer real an. Während der Kavalier abwägt, ob er sich für die geliebte Dame in Todesgefahr begeben soll, erscheinen Männer mit Dolchen im Genick. Dieses Bild, das sich später wiederholt, mutet reichlich surreal an, ebenso die Erscheinung des mit einem riesigen Umhang ausgestatteten Königs, der nur dem Inneren Cardillacs entspringt.
Hans Gröning (Cardillac)
Dem Regisseur gelingen eindringliche Personenzeichnungen. Insbesondere das Manische in der Figur des Protagonisten wird hervorragend herausgearbeitet. Auffällig ist, dass der Goldschmied mit einer Hitler-Frisur auftritt. Mit seinem Anspruch, alles besitzen zu können, begibt er sich in totalitäres Fahrwasser. Das ist gefährlich. Offenkundig wird dies, wenn im Programmheft zu lesen ist, dass der Besitz an die Stelle des Sozialen rückt, was nicht nur für Cardillac, sondern auch für den Offizier gilt. Damit wird die Handlung in eine gefährliche Nähe zum Faschismus gerückt. Eine zu Beginn und am Ende projizierte Feuersbrunst versinnbildlicht die Schrecknisse des Krieges. Mit Blick auf die Entstehungszeit der Oper könnte man hier an den Ersten Weltkrieg denken. Angesichts der aufgezeigten Nähe zum Faschismus erscheint jedoch die Annahme gerechtfertigt, dass Münstermann hier schon den Zweiten Weltkrieg meint. Den Schlusschor singt das Volk als Hymne auf den eigenen Untergang. Dieser überzeugende Regieeinfall ist im Kontext der Inszenierung nur konsequent. Am Ende wird Cardillac von der aufgebrachten Masse nicht gelyncht, wie es Komponist und Librettist eigentlich vorgesehen haben, sondern er begeht Selbstmord. Er springt von einer Treppe in den Tod. Insgesamt haben wir es hier mit einer klug durchdachten, stringenten und atmosphärisch dichten Produktion zu tun, die durchaus zu gefallen wusste.
Franziska Tiedtke (Tochter), Hans Gröning (Cardillac)
In der Titelrolle brillierte der in Pforzheim bereits gut bekannte Hans Gröning. Mit dem Cardillac hat er wahrlich eine gute Rolle für sich gefunden. Das Manische und Getriebene der Figur hat er trefflich vermittelt. Und auch gesungen hat er mit seinem bestens fokussierten, voluminösen und ausdrucksstarken Bariton perfekt. Einen gut verankerten, viel lyrischen Wohllaut verströmenden Sopran, der auch zu schönen Bögen fähig ist, brachte Franziska Tiedtke für die Tochter mit. Dorothee Böhnisch sang mit profundem, voll und rund klingendem Mezzosopran die Dame. Mit sonorem, imposantem Bassklang stattete Aleksandar Stefanoski den Goldhändler aus. Gut gefiel der sauber geführte Bariton von Paul Jadach als Führer der Prévoté. Weniger gut war es um die Tenöre bestellt. Steffen Fichtner sang den Offizier zwar relativ laut, indes hätte die Stimme besser im Körper sitzen können. Das gilt auch für den sehr dünn und kopfig singenden Kavalier von Johannes Strauß. Mächtig legten sich Chor und Extrachor des Theaters Pforzheim ins Zeug. Ihnen gebührt für ihre ausgezeichnete Leistung ein Sonderlob.
Fazit: Eine ausgemachte Rarität, die die Fahrt nach Pforzheim gelohnt hat.
Ludwig Steinbach, 30.6.2017
Die Bilder stammen von Sabine Haymann