Premiere am 25.07.2014
Realitätsverlust einer alternden Diva
Wenn eine Sache abgeschlossen ist, sagt man oft „Klappe zu, Affe tot”. In der Karriere des einst großen Stummfilmstars Norma Desmond ist die letzte Klappe schon vor langer Zeit gefallen. Nur sie selbst will es nicht wahrhaben, auch wenn sie gerade ihren kleinen Hausschimpansen tränenreich begräbt. Andrew Lloyd Webbers Musical „Sunset Boulevard“ (nach dem berühmten Film mit Gloria Swanson) führt in das Hollywood der fünfziger Jahre, wo junge Talente auf Arbeits- und Glückssuche sind. Darunter befindet sich auch der total abgebrannte Drehbuchschreiber Joe Gillis, der auf der Flucht vor seinen Gläubigern in der Villa von Norma Desmond landet. Die alternde Diva zwingt ihn geradezu, ihren (grottenschlechten) Drehbuchentwurf zu einem „Salome“-Film zu überarbeiten und vereinnahmt ihn dabei immer mehr. Als sich Joe schließlich zugunsten seiner jungen Kollegin Betty aus Normas Fängen lösen will und ihr die ungeschminkte Wahrheit über ihr niemals stattfindendes Comeback ins Gesicht schleudert, wird er von ihr erschossen. In dem Musical erzählt Joe die Ereignisse im Rückblick als „Toter“.
„Sunset Boulevard“ steht etwas im Schatten anderer Werke von Lloyd Webber, nicht zuletzt weil musikalisch wirklich zündende Songs eher sparsam eingestreut sind und die Eingangszenen mit dem retrospektiven Sprechgesang viel zu lang sind. Gleichwohl bietet es eine Story, die stimmig und berührend ist. Aber das Werk steht und fällt eben doch mit der Besetzung der Norma Desmond. Den Tecklenburger Freilichtspielen, die in diesem Jahr ihr 90jähriges Bestehen feiern können, ist da mit Maya Hakvoort ein fulminanter Glücksgriff gelungen. Sie beherrscht mit autoritärer Ausstrahlung jederzeit die Szene, ihre dunkel eingefärbte Stimme wird mit glutvoller Expressivität und sattem Volumen geführt. Die Arie „Nur ein Blick“ ist eine bejubelte Offenbarung. Und wenn sie mit „Träume aus Licht“ ihre glorreiche Vergangenheit beschwört, schleichen sich schon Anzeichen eines Realitätsverlusts ein. Den fortschreitenden Wahn der alternden Diva führt sie äußerst überzeugend vor. Und wenn sie sich nach dem Mord in ihr Salome-Kostüm stürzt und sich inmitten von Filmaufnahmen wähnt, kann die Szene schon wohlige Gruselschauer erzeugen.
Neben Hakvoort haben es die anderen Sänger nicht leicht. Julian Looman singt und spielt den Joe mit burschikoser Leichtigkeit, mit wohldosierter Mischung aus Gefühl und Zynismus. Normas treu ergebener Diener Max (der sich als ihr erster Ehemann und Regisseur Max von Mayerling entpuppt) wird von Reinhard Brussmann persönlichkeitsstark und mit etwas steifem Bass gestaltet. Als Betty macht Elisabeth Hübert trotz etwas leichtgewichtiger Stimme eine sympathische Figur. Für schwungvollen musikalischen Fluss sorgt Tjaard Kirsch in bewährter Weise am Pult des Orchesters.
Die Inszenierung von Andreas Gergen, dem Operndirektor am Landestheater Salzburg, schöpft die Möglichkeiten der Tecklenburger Bühne optimal aus. Bühnenbildnerin Susanna Buller hat die dunkle Front von Nora Desmonds Villa mit einer großen Freitreppe ausgestattet, die vom Glanz vergangener Zeiten zeugt. Im Kontrast dazu steht am Rand die bunte Kantine der Filmcrew. Für eine bewegte Choreografie zeichnet Danny Costello verantwortlich. Gergen sorgte in seiner Regie für sinnvolle Aktionen und spektakuläre Effekte – etwa wenn ein prachtvoller Oldtimer auf die Bühne rollt, plötzlich ein Silvesterfeuerwerk entzündet wird oder wenn nach Normas Selbstmordversuch das Blut sich „dekorativ“ auf einer weißen Tischdecke ausbreitet.
Das hübsche Duett „Ein gutes Jahr“ wird bei ihm zu einem gespenstischen Tango. Und immer wieder geistert eine Komparsin schicksalsdräuend im Salome-Kostüm mit dem abgeschlagenen Haupt des Jochanaan durch die Szene. Ironische Tupfer wie die Neueinkleidung von Joe oder die Fitness-Torturen von Norma werden gekonnt gesetzt. Aber vor allem ist ihm eine feinsinnige Personenführung gelungen, die den Absturz von Norma Desmond beklemmend nachvollziehbar macht. Tecklenburg hat sich einmal mehr als führende Freilichtbühne in Sachen Musical bewiesen.
Wolfgang Denker, 27.07.2014
Fotos: Freilichtspiele Tecklenburg