CD: „Gustav Mahler: Symphonien“ unter Mariss Jansons

Einen besonderen Schatz präsentiert dieser Tage der Bayerische Rundfunk unter seinem CD-Label „BR-Klassik“. Erstmals gibt es nun eine Gesamteinspielung der Sinfonien eins bis neun von Gustav Mahler mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung seines langjährigen, ehemaligen und schmerzlich vermissten Chef-Dirigenten Mariss Jansons.

Bei den Aufnahmen handelt es sich ausnahmslos um mitreißende Konzert-Mitschnitte in sehr guter Aufnahmequalität. Besonderes Schmankerl sind diverse Aufnahmen von Proben und Interviews zu den Mahler Sinfonien. Allein schon dieser besonderen Zugaben wegen ist diese CD-Box ein Muss für jeden Musikfreund. Diese Kostbarkeiten geben einmal mehr klares Zeugnis über die genaue und hingebungsvolle Probenarbeit des verstorbenen Ausnahme-Dirigenten. Die tiefe Gefühlsarbeit, sein endloses Suchen nach maximaler Hingabe im Verbund mit orchestraler Perfektion bleibt unerreicht.

Diese Edition ist auch deshalb wichtig, weil sie zutiefst den einsamen Rang des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks als eines der besten Mahler Orchester der Welt belegt.

Die Musik Gustav Mahlers gehört seit Jahrzehnten zur musikalischen DNA des Orchesters. Bahnbrechend war und ist der Zyklus, den Rafael Kubelik einspielte, eigen in der Erzählweise und absolut unverwechselbar. Später dann führte Lorin Maazel als Chef des Orchesters ebenso alle Mahler Sinfonien auf, diesmal mit einem gänzlich anderen Interpretationsansatz, der vor allem auf perfekten Orchesterklang abzielte und vom Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks bestens umgesetzt wurde.

Mariss Jansons, der so vom Orchester innig geliebte und tief verehrte Chefdirigent ließ sich Zeit, bis er alle Sinfonien Mahlers aufführte. Minutiöses Partitur Studium und große Ekstase in den zahlreichen Klangeruptionen verliehen seinen Interpretationen tiefe Momente der Einzigartigkeit.

Wer Jansons einmal bei Proben erlebte, der kam aus dem Staunen nicht heraus. Mit größter Energie forderte er von den Musikern Totaleinsatz, dabei war seine äußerst bildreiche Sprache eine große Hilfe bei der Vermittlung seiner Intentionen und seine grenzenlos eingesetzte Energie. So verwundert es nicht, dass diese intensive Bildsprache bei der Musik Gustav Mahlers bestens zur Geltung kommt.

Mariss Jansons erzählt jede Sinfonie als Teil einer Weltgeschichte: Liebe, Natur, Transzendenz, Jenseits, Hölle und Göttlichkeit werden von Jansons und seinem Orchester herausragend dargeboten.

Von der ersten bis zur neunten Sinfonie gestaltet Jansons die Werke mit grenzenlosem Staunen. Er, der so ganz genau mit der Partitur Wiedergabe war, agierte hingegen als Interpret absolut frei und hemmungslos getreu seinem früheren Motto: „Die Partitur ist nur ein Angebot. Die Gefühle müssen wir Interpreten zum Leben erwecken!“

Und so ist es in der ersten Sinfonie vor allem das Gefühlsspektrum, was Jansons Zugang offenbart: Liebe und Leidenschaft stehen im Zentrum, all dies in einem schön gefärbten Klangspektrum. Das Schrille und Grelle ist eher eine subtile Farbe.

Deutlicher wird Jansons in der zweiten Sinfonie, die bis ins letzte Detail durchgehört wirkt. Hier gibt er den Bläsern und den Schlagzeugern mehr Freiraum für dynamische Entfaltung. Mit Bernarda Fink und der glorios strahlenden Anja Harteros sind exzellente Solistinnen aufgeboten, die mit dem fabelhaften BR-Chor ein himmliches Finale gestalten. Dieser singt völlig homogen, textverständlich und ausgesprochen klangschön.

Gesteigert werden diese Momente in der sehr gelungenen Aufnahme der dritten Sinfonie, die dem erzählerischen Duktus von Mariss Jansons maßgeschneidert passt. Wunderbar sind die Proportionen in dieser riesenhaften Sinfonie ausgestaltet. Jansons hat mit seinem untrüglichen Timing bereits den außergewöhnlichen Liebesgesang des finalen Satz beim Start des Werkes vor seinem geistigen Auge. Präsent und hoch präzise dazu das herrliche Posthorn-Solo im dritten Satz. Einer der vielen ergreifenden Momente dieser Edition ist das superbe Alt-Solo von Nathalie Stutzmann, inzwischen selbst eine sehr gefragte Dirigentin. Mit einer überirdisch anmutenden Stimme gesegnet, zelebriert Stutzmann mit großer Anteilnahme ihr Solo. Wunderbar!

Die sonst mitunter beiläufig wirken könnende vierte Sinfonie wird bei Mariss Jansons zu einer besonders spannenden Hörerfahrung. Wie ein Kind erfreut sich Jansons hörbar an den Kontrasten der vielschichtigen Komposition und doch findet er sein Zentrum in der Ausgestaltung symphonischer Schönheit, wie es ihm formidabel im dritten Satz gelingt. Die Sopranistin Mia Persson steuert dazu im vierten Satz einen passenden kindhaft anmutenden Tonfall bei.

Mit der fünften Sinfonie verändert sich Jansons Interpretationsansatz. Im Tempo und der Phrasierung agiert er freier, betont viele sonst meist ungehörte Details. Das Scherzo wird süffig mit genussvoller Breite vorgetragen. Und das berühmte Adagietto? Jansons nimmt die Vortragsbezeichnung wörtlich und intoniert mit dem zauberhaft tönenden Streicherapparat und begleitender Harfe ein zu Herzen gehendes orchestrales Lied, ohne jeglichen Schwulst und das deutlich unter zehn Minuten Spielzeit. Das apotheotische Finale interpretiert Jansons als ein strahlendes Lebensbekenntnis.

Die sechste Sinfonie stellte Jansons, den Zuversichtlichen, vor ein Dilemma. Mahlers Werk ist hier von großer Düsternis. Natürlich bringen das Adagio und die Naturklänge der Kuhglocken Licht in den akustischen Alptraum. Die Katastrophe nimmt dennoch ihren Lauf bis ins tiefste Schwarz und so gestaltet Jansons diese Sinfonie wie einen Thriller. Erst im letzten Satz führt er die Zuhörer in die schwer erträgliche Verzweiflung, die zunehmend schwerer und finsterer gerät. Ein fürchterlich aufschreiender Schlussakkord. Ein letztes Ausatmen. Vorbei! Eine existentielle Hörerfahrung.

Ganz in seinem Element ist Jansons dann wieder in der rätselhaften siebten Sinfonie. Auch hier ist die bestechende Klangschönheit und überragende Virtuosität des Orchesters prägend für seinen Interpretationsansatz. Fortwährend mischt Jansons die Farben neu und erfreut sich hörbar an den daraus resultierenden Effekten. Der finale Satz ist seiner überdrehten Turbulenz bei Jansons ein einziges überschäumendes Fest der Freude!

Als Meister der großen Form erweist sich Mariss Jansons in der achten Sinfonie. Hier gelingt es ihm überragend, die strukturellen Verflechtungen zu öffnen und jedes Detail, vor allem in den Mittel- und Nebenstimmen herauszuarbeiten. Auch in den gewaltigen Chorballungen wird der Zuhörer zu keinem Zeitpunkt akustisch erschlagen, sondern mitgenommen in einen fortwährend sich steigernden Strudel der Harmonie. Neben den hinreißenden Chören sind ausgezeichnete Vokalsolisten zu erleben, so z.B. die Sopranistin Christine Brewer, Bariton Michael Volle und der mit stupender Leichtigkeit singende Tenor, leider auch zu früh verstorben, Johan Botha.

Mahlers neunte Sinfonie, wiederum sehr genau von Jansons einstudiert, ist hier kein finaler Abschieds- oder Weltschmerz. Natürlich sind auch diese Empfindungen spürbar. Jansons geht jedoch seinen eigenen Weg. Auch hier durchschreitet ein staunender Gestalter das Wunderwerk dieser Partitur, der auch im grellen Ausdruck die Schönheit sucht und findet. Der finale Satz ist das Eröffnen der tröstlichen Jenseitigkeit. Ein fortwährendes Loslassen und zu sich finden. Der Lebenskreis schließt sich. Ein letzter langer Atemzug. Frieden.

Mariss Jansons und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks erklingen als tönende Einheit. Dieses Orchester spielte alle Sinfonien mit maximaler Hingabe und größter Klangkultur. Wir haben es hier nicht mit hervorstechenden Instrumentalgruppen zu tun. Nein. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ertönt als ein Gesamtinstrument, in welches alle Musikerinnen und Musiker tief miteinander verbunden sind. Jeder hört und achtet auf das, was die Musik erzählt. Die diffizilen Anforderungen, ob für Soli oder Tutti, werden in allerbester Weise realisiert. Jansons ist permanenter, ermüdungsfreier Energieübermittler und Impulsgeber.

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks erschafft Klangbilder der besonderen Güte, auf die Gustav Mahler zurecht stolz blicken würde.

Mariss Jansons und „sein“ Gustav Mahler bedienen nicht die gängigen Hörerwartungen. Es ist ein tiefes und unbedingtes Plädoyer an das Leben und die Liebe. Natürlich und sehr lebendig. 

Ein schönes und bewegendes Dokument, was wiederholt offenlegt, was die Welt an Mariss Jansons verloren hat. Diese Aufnahmen halten ihn und sein Wirken lebendig, umso deutlicher auch, weil wir Hörer bei den Arbeitsprozessen Einblick nehmen können. Hier ist Jansons in seiner humanistischen und künstlerischen Größe zu erleben, die tief anrühren.

Unbedingt empfehlenswert!

Dirk Schauß, 5. November 2022


Gustav Mahler

Sinfonien 1. – 9.

Mariss Jansons

Chor und Symfonieorchester des Bayerischen Rundfunks