CD: „La Tragédie de Salomé“, Florent Schmitt

Zugegeben: ein paar Takte lang vermeint man Debussy zu hören – aber es war die Absicht des Komponisten, dem modernsten französischen Komponisten seiner Zeit Reverenz zu erweisen, indem er in einem Satz, in dem das Meer eine Rolle spielt, ein wichtiges Motiv aus der berühmten Tondichtung des Kollegen anklingen lässt.

Florent Schmitt: dem Opernfreund ist er nicht bekannt, weil Schmitt in seinen knapp 70 produktiven Jahren schlicht und einfach keine Opern schrieb. Ballettkenner könnten immerhin Oriane et le Prince d’amour und seinen Jardin secret in Erinnerung haben, doch wirklich bekannt blieb er durch seine Musik zu einem Drame muet, also einem „Mimodrama“, wie es im Booklet einer neuen Produktion heißt. Doch kannte man, wenn man zu einem älteren Tonträger griff, bislang nur die gekürzte Suite, nicht die Erstfassung, die 1907 als Begleitmusik zum stummen Drama im Théâtre des Arts in Paris erklang, wo die durch ihre Serpentinentänze bekannte Loïe Fuller das Publikum als Salomé gleichsam in den Schleier ihrer Tanzkünste einwickelte. Gabriel Pierné hatte bereits 1895 eine erste Pantomime-Musik für die berühmte Tänzerin geschrieben. Schmitt, den man in Frankreich als „Klassiker“ zu bezeichnen pflegt, schrieb ein Dutzend Jahre später für Robert D’Humières Fassung der Geschichte der tanzenden Königstochter eine gut eine Stunde dauernde Musik, die auch ohne Optik Eindruck macht, weil Schmitt außerordentlich symphonisch vorging; schon das Prélude bringt es auf zehn Minuten. Damals reagierte man mit dem Modestoff, natürlich, auf den Welterfolg von Richard Strauss, dessen Salome erst wenige Monate zuvor am Monnaie in Brüssel in einer von Strauss selbst erstellten französischen Fassung ihre öffentliche französische Erstaufführung erlebt hatte. Wenn Schmitt im bös schillernden Danse des Serpents ein paar Takte des Strauss‘schen Schleiertanzes zitiert, ist’s kein Zufall, sondern auch, wie im Fall der Debussy-Stelle, eine Hommage an einen großen anderen Kollegen, der, wie Schmitt, die Harmonik ausreizte, ohne die Grenzen der Tonalität zu überschreiten. Dennoch klingt seine Partitur nicht zurückhaltend-konventionell, sondern, bei allem Formbewusstsein, geradezu „wollüstig“ – also ganz dem Thema entsprechend; die Orientalismen, die am Ende, wie in den letzten Takten der Strauss-Oper, wild-rhythmisch ausbrechen, schließen ein Drama ab, dessen sechs Einzelteile und Tänze von Ferne noch Wagner verpflichtet sind, ohne dass Schmitt ein Wagnerianer gewesen wäre.

Wollte man – aber man muss ja nicht – die Komposition in eine musikgeschichtliche Schublade stecken, so wäre sie in der Nähe von Gabriel Fauré, Ernest Chausson und des jungen Debussy gut aufgehoben. „Er begnügte sich damit“, schrieb vor einem halben Jahrhundert Monsieur Pierre Petit, Direktor der École normale de musique de Paris, im Hüllentext einer Einspielung der Salomé-Suite mit dem Orchestre National de L’O.R.T.F. unter Jean Martinon, „der Grammatik und Syntax seiner Zeit eine neue, ihm eigene Wendung und einen neuen Ton zu geben.“ Er habe die Musik nicht neu erfunden, doch die Art und Weise, wie er sie verwende, sei seine eigene. Genauer kann man es nicht ausdrücken, um den Reiz der Schmittschen Muse in Worte zu fassen.

Das hr-Sinfonieorchester Frankfurt spielt unter Alain Altinoglu die Süffigkeiten dieser im Licht der frühen Moderne schillernden Musik konzentriert und tontechnisch klar heraus. Dazu gepackt: ein ruhiger Abschluss nach dem (vom echte nahöstliche Vokalisen singenden Sopran Ambur Braid eingeleiteten) exzessiven Finale des Dramas. Der Chant Élégiaque stimmt schließlich wieder in eine ruhige Welt ein, die vom „Klassiker“ Florent Schmitt um die vorletzte Jahrhundertwende geschrieben und wenig später orchestriert wurde. Vorher aber hören wir, vermittelt durch ein erstklassiges Orchester, eine andere Salome, die auf ihre verführerische Weise der „deutschen“ Dame mit dem Kopf des Jochanaan durchaus Konkurrenz machen könnte. Sagen wir: Es war überfällig, die gesamte Musik zum Drama aufzunehmen.

Frank Piontek, 9. Oktober 2024


Florent Schmitt
La Tragédie de Salomé

hrSinfonieorchester
Alain Altinoglu

Alpha-Classics