Es ist schon erstaunlich, was aus einer Randbemerkung des Evangelisten Markus alles geworden ist. Er hat rund 80 Jahre nach den Geschehnissen in Palästina rund um die Ermordung von Johannes dem Täufer durch Herodes Antipas dessen Gemahlin Herodias und deren (bei ihm namenlose) Tochter kurz erwähnt und ihnen eine Mitschuld an Johannes‘ Tötung zugewiesen. Wiederum 500 Jahre später brachte ein Mönch den Namen Salome für diese Tochter ins Spiel, es folgten mittelalterliche Mysterienspiele, Gemälde, Theaterstücke, Opern. Die Legende setzte sich zunehmend im Menschheitsgedächtnis fest, Salome wurde neben Maria und Maria Magdalena zur populärsten Frauenfigur des Neuen Testaments – und zum Inbegriff der verruchten femme fatale.
Auf den Punkt gebracht hatte das der Schriftsteller Oscar Wilde in seinem Theaterstück in den 1890er Jahren (dessen Aufführung übrigens bis 1931 in Großbritannien verboten blieb). Der Komponist Richard Strauss sah das Stück aber in Berlin und machte seine erste Erfolgsoper daraus – noch immer eine Umsetzung, die unter die Haut geht, niemanden gleichgültig lässt.
Erstaunliches macht der Regisseur Herbert Fritsch aus der Oper. Fritsch braucht keine Aktualisierung, um das Publikum zu fesseln, ja geradezu zu bannen. Auf der von ihm entworfenen Bühne befinden sich lediglich zwei goldene Throne, ein größerer und ein kleinerer. Sie stehen auf einem blau glänzendem blauen Spiegelboden, die Bühne wird halbrund durch eine Wand abgeschlossen, auf der sich eine faszinierende Dramaturgie der Farben abspielt und ein Vollmond – auch farblich changierend – omnipräsent ist. Das schlicht geniale Lichtdesign entwickelten Roland Edrich und David Hedinger. Die fantasievollen Kostüme verantwortete einmal mehr die so wunderbar kreative Victoria Behr. Fritsch setzt in seiner Personenführung (wie es sein Markenzeichen ist) auf ausgeklügelten Slapstick, auf nervöse Überzeichnung, welche das Unfassbare, das hier geschieht, durch die Karikatur fassbar macht – und mit faszinierender Punktgenauigkeit auf die Musik reagiert. Er hat dazu eine unglaublich dichte und sehr genaue Bewegungschoreografie entwickelt, die eben auch vor Karikatur (Juden) nicht zurückschreckt. Allerdings ist diese ja bereits in der Musik von Strauss so angelegt – zum Glück saßen keine „Überwoken“ im Publikum oder wenn, dann verhielten sie sich ruhig.
Strauss hat die Oper ja für ein Riesenorchester konzipiert, schrieb u.a. je 16 erste und zweite Geigen vor. Das meistert heutzutage kaum mehr ein Opernhaus, geschweige denn ein kleineres Theater wie Luzern, wo diese Produktion zuerst herauskam, bevor Intendant Benedikt von Peter sie ins große Haus nach Basel mitnahm. Für das Gastspiel des Theaters Basel in Winterthur nun griff man wieder auf die seinerzeit für Luzern entwickelte Orchesterfassung zurück, die auf der reduzierten, von Richard Strauss selbst entwickelten Fassung beruht und vom Dirigenten Clemens Heil eingerichtet worden war. Und es ist erstaunlich: Man vermisst den dicken, süffigen Orchestersound in keinem Moment, ganz im Gegenteil. Durch den schlankeren, aber immer noch ungemein farbig schillernden Klang, erhalten die Stimmen Raum, sich unforciert entfalten zu können, ein Primat zu erlangen. Gut so, denn der Text ist natürlich bei diesem Stück ganz besonders wichtig und interessant und der Subtext, der durch das Orchester beigesteuert wird, ist nach wie vor prominent und durchhörbar da, dank der vorwärtsdrängenden und sängerfreundlichen Leitung durch Clemens Heil und das fein und dynamisch einfühlsam abgestufte Spiel der Musiker des Basler Sinfonieorchesters.
Die Partien in Richard Strauss‘ Einakter Salome, der wie eine Sinfonie in vier Sätze gegliedert ist, stellen gewaltige Anforderungen, welche vom hier auf der Bühne agierenden und singenden Ensemble bravourös gemeistert wurden. Geradezu unfassbar, ja regelrecht atemberaubend gestaltet Heather Engebretson die Titelrolle. Noch nie habe ich eine Salome erlebt, bei der alles so glaubhaft zusammenpasst, Physiognomie, Stimme, körperliche Agilität und Gestaltungskraft. Die zierliche Sängerin mit ihrer Pagenfrisur (erinnert stark an die junge Mireille Mathieu) im rosa Zirkusprinzessinnen-Kleidchen legt eine sägerische und darstellerische Tour-de-force hin, die einen umhaut. Sie ist das trotzige Kind, die freche Göre, der verunsicherte Teenager, die verwöhnte Prinzessin, die sexuell erwachende junge Frau, bezirzt Narraboth mit angedeutetem Oralsex, fühlt sich angezogen und wieder abgestoßen von Jochanaan, ist fordernd und berechnend gegenüber ihrem Stiefvater Herodes, aufmüpfig und verschwörerisch im Umgang mit ihrer Mutter Herodias. Ständig ist sie in Bewegung, balanciert wie eine Artistin über die Lehnen der beiden Throne, kuschelt auf dem Schoß des Herodes, wälzt sich und robbt lasziv über den Boden, strampelt und „täubelt“ wie ein Kleinkind in der Trotzphase – und tanzt selbstverständlich den „Tanz der sieben Schleier“, zwar ohne Schleier aber nicht ohne fordernde Erotik. Selbstbewusst nimmt sie sich den Kopf des Jochanaan gleich selbst, intoniert nach 90 Minuten intensivsten Gesangs auch noch die zwanzigminütige Schlussszene mit leuchtend expressiver Stimme und reinster Intonation. P-H-Ä-N-O-M-E-N-A-L !
Jason Cox als Jochanaan ist ebenfalls ständig auf der Bühne präsent, jedenfalls sein Kopf, der von Beginn weg aus dem blauen Spiegelboden ragt. Nur in der dritten Szene wird er auf Verlangen Salomes aus dem Verließ heraufgeholt, nur mit Lendentuch bekleidet und von Folter und Qual gezeichnet aber mit stimmlicher Verdammungskraft ruft er seine Anklagen ins Rund. Gerade durch die transparente, reduzierte Partitur entfachen seine wunderbaren Kantilenen eine zwar warme, aber auch einschüchternde missionarische Wirkung.
Peter Tantsits bleibt der schwierigen Rolle es Herodes nichts an Ausdruckskraft schuldig. Er bringt die Aspekte des Ängstlichen, des Abergläubischen, aber auch des geilen, ja perversen und dekadenten Tetrarchen mit nervös tänzelnder Stimmigkeit rüber. Er und seine Gemahlin Herodias sind in üppige schwarze Roben gekleidet, wirken wie übergroße, fette Schmeißfliegen. Jasmin Etezadzadeh besticht als Herodias mit ausladendem, ausgezeichnet fokussiertem Mezzosopran und beachtlicher Bühnenpräsenz und zeigt eindringlich, dass die Rolle eben mehr hergibt, als ein Vehikel für ehemalige Hochdramatische auf dem Altenteil zu sein.
Ronan Caillet intoniert die schmachtenden tenorale Kantilenen des unglücklichen Narraboth mit wunderschöner Stimme – man bedauert den frühen Suizid dieses schönen „Syriers“. Nataliia Kuhkar lässt mit ungemein satter und einnehmender Mezzosopranstimme als Page aufhorchen. Die fünf Juden sind mit Riccardo Botta, Boguslaw Bidzinski, Karl-Heinz Brandt, André Schann und Vladimir Vassilev trefflich besetzt. Adrew Murphy und Vivian Zatta verkörpern klangschön singende Nazarener und sind mit ihren roten Haaren und den spitzzylindrigen Kostümen auch optische Hingucker. Der erste und der zweite Soldat (Kyu Choi und Jasin Rammal-Rykala) agieren vor dem Einsetzen der Eröffnungskantilene der Klarinette in stummer Pantomime, man ahnt, dass Schreckliches geschehen wird.
Der Abend ist von diesem Moment an bis und mit dem Schlussapplaus eindringlich durchchoreografiert, ja selbst der Schlussapplaus ist ungewöhnlich gestaltet. Das Ensemble nimmt den begeisterten Applaus nicht mit Einzelvorhängen und Verbeugungen entgegen, sondern arrangiert sich nach fallendem Vorhang immer wieder zu neuen Tableaux Vivants vor changierendem Licht. Eindrücklich, faszinierend, atemberaubend!
Morgen Freitag gibt’s noch eine Gelegenheit, diese unfassbar präzise, eindringliche und unter die Haut gehende Produktion zu erleben!
Kaspar Sannemann 1. April 2023
Salome
Richard Strauss
Winterthur
Gastspiel des Theaters Basel
29. März 2023
Regisseur: Herbert Fritsch
Dirigat: Clemens Heil
Basler Sinfonieorchester