Heidelberg: „Così fan tutte“

Premiere: 10. 5. 2014

Reise ins Ich mit Rousseau und Freud

Ziemlich unkonventionell geriet die Neuproduktion von Mozarts „Cosi fan tutte“ am Theater der Stadt Heidelberg. Nadja Loschky hat sich dem Stück ganz von innen her genähert und mit Hilfe einer spannenden, stringenten Personenregie derart packend und kurzweilig in Szene gesetzt, dass die 2h50 Spieldauer wie im Fluge vergingen. Handwerklich und konzeptionell gelang es der jungen Regisseurin, aus der trotz der Kürzungen noch Längen aufweisenden Oper spannendes Musiktheater zu machen. Das wirkte alles frisch und neu und durchaus auch gefällig, um es mal mit Goethe zu formulieren. Und dass das zahlreich erschienene Heidelberger Publikum zeitgenössische Interpretationen durchaus goutiert, wurde beim sehr herzlichen Schlussapplaus für Frau Loschky und ihr Team offenkundig.

Ensemble

Die Handlung erscheint in Nadja Loschkys Deutung als groß angelegter Menschenversuch Rousseau’scher Prägung, vielfältig garniert mit Freud’schen Erkenntnissen. Nina von Essen hat einen in dunklen Brauntönen gehaltenen klassizistischen Raum des gehobenen Bildungsbürgertums geschaffen, der im Lauf der Aufführung einigen Wandlungen unterliegt und am Ende in seine ursprüngliche Form zurückkehrt. Neben einer langen Speisetafel im Hintergrund wird dieser große Eleganz atmende Saal insbesondere von einem Theater auf dem Theater eingenommen, das immer wieder in Brecht’scher Manier in das Spiel einbezogen wird. Das ganze Leben ist eben ein Theater und alle Männer und Frauen sind nur Spieler. Diese Erkenntnis von Shakespeare hat sich auch die Regisseurin zu Eigen gemacht, wenn sie die Protagonisten in ihrer kleinen Welt als Teil eines viel umfassenderen Kosmos agieren und ihre Emotionen trefflich ausleben lässt. Sie hat dem Ganzen gekonnt eine Rahmenhandlung vorangestellt. Noch vor Erklingen der Musik öffnet sich der Vorhang und führt dem Zuschauer eine gleichsam in bürgerlichen Zwängen erstarrte, von Violaine Thel modern eingekleidete Gesellschaft vor Augen, aus der sich Don Alfonso und die bereits stark in die Jahre gekommene Despina die Personen für ihr Experiment aussuchen. Ihre Wahl fällt schließlich auf eine nahe an dem Theater auf dem Theater versammelte Gruppe von vier jungen Leuten, die im Folgenden ihre Versuchskaninchen werden, dabei aber immerhin noch einen eigenen Willen zeigen. Diese kurze, der Ouvertüre vorangestellte Szene hat die Regisseurin mit einem zusätzlichen, von ihr selber in italienischer Sprache verfassten und von den beiden Drahtziehern des Versuches gesprochenen Text garniert.

Hier HDCosi6f – Marija Jokovic (Dorabella), Namwon Huh (Ferrando), Ipca Ramanovic (Guglielmo), Wilfried Staber (Don Alfonso)

Einfühlsam nimmt Frau Loschky die Handlungsträger an die Hand und unternimmt mit ihnen eine Reise in deren Inneres. Sie zeigt den Liebenden die Grenzen ihrer bürgerlichen Begrenztheit auf, die von diesen durchaus gesehen und auch akzeptiert werden. Wir haben es hier gleichsam mit einem von Alfonso und Despina inszenierten Selbstfindungstrip der jungen Leute zu tun, denen die Möglichkeiten psychischer Selbstbefreiung aus bourgeoisen Ketten vor Augen geführt werden. Diese ausgedehnte Exkursion in tiefe seelische Gefilde ist mit einem Bruch der Realität verbunden. Das Geschehen nimmt in immer stärkerem Maße surrealistische Züge an. Es ist gleichsam eine Gratwanderung zwischen Traum und Wachen, die die Paare hier vollführen, krassem Realismus korrespondieren visionäre Impressionen. Nachhaltig wird zwischen zwei Bewusstseinsterrains hin und her gependelt, die indes beide durch die doppelbödige Musik auf recht ironische Weise als illusionär entlarvt werden. Zwischen beiden Ebenen gilt es einen Ausgleich zu finden.

Irina Simmes (Fiordiligi)

Es sind insbesondere die im Inneren der Menschen verborgenen Seiten, die Frau Loschky an erster Stelle interessieren. Gekonnt stößt sie bis in die tiefsten Abgründe der menschlichen Psyche vor, deren Auswüchse sie schonungslos aufdeckt. Es sind insgesamt nicht äußere Aspekte, auf die sie das Hauptaugenmerk legt, sondern die vielfältigen Masken, die in ihrer Interpretation weniger gegenständlicher Natur sind, sondern Ausfluss eines inneren Versteckspieles der Beteiligten. Die Larven, von denen jeder eine Vielzahl in sich birgt, stellen gleichsam verschiedene Möglichkeiten zur Gestaltung der jeweiligen Lebensbahn dar. Die Wahl des Weges steht den Protagonisten frei. Was für einen Pfad sie verfolgen und welche Abzweigungen sie im Einzelfall nehmen, ist ganz in ihr Belieben gestellt. Wichtig ist dabei nur, dass sie dabei immer sie selbst bleiben. Aufrichtigkeit gegenüber dem eigenen Ich wird in diesem Kontext ganz groß geschrieben, denn nur sie führt letztlich zur Befreiung aus den seelischen Abgründen und damit zur notwenigen Selbsterkenntnis. Konsequenterweise entdecken die Teilnehmer des Versuches auch immer mehr Seiten an sich, die ihnen bisher gänzlich unbekannt waren. Die Masken verhüllen ihre Gesichter in Wirklichkeit nicht, sondern bringen ganz im Gegenteil ihr wahres Wesen zum Vorschein. Was zuerst noch Spiel ist, wird Wahrheit. Damit geht eine zunehmend stärker wirkende Unmittelbarkeit der Emotionen Hand in Hand. Die Handlungsträger lernen, mit sich selbst umzugehen und sich nicht mehr von einem irgendwie gearteten gesellschaftlichen Normen- und Regelwerk beherrschen zu lassen. Ihre ausgeprägten Gefühle sind nur ein Vehikel zur Auflehnung gegen überkommene Konventionen. Diese Fahrt in das menschliche Ich ist aber nicht ungefährlich.

Marija Ramanovic (Dorabella)

Über die Risikobehaftung ihrer inneren Reise sind sich die Paare zumindest unterbewusst durchaus im Klaren. Sogar Don Alfonso und Despina als spiritus rectores des Geschehens erkennen in immer stärker werdendem Maße die Bedrohlichkeit ihres Unternehmens. Während Fiordiligi, Dorabella, Ferrando und Guglielmo sich gewissermaßen ein kindliches Gemüt bewahrt haben, geht ein solches dem alten Paar gänzlich ab. Dessen an den Tag gelegter Zynismus ist ebenfalls eine Maske, nämlich die verborgene Sehnsucht nach der Jugend. Die Liebeshändel der jungen Leute sind für Don Alfonso und Despina eine letzte Möglichkeit, mittelbar die Emotionen zu erleben, zu denen sie selber altersbedingt nicht mehr in der Lage sind. Aus der Partizipation an den Gefühlen der Liebenden suchen sie neue Kraft zu gewinnen, was indes nur halb gelingt. Zunehmend verselbständig sich die von ihnen kreierte Versuchsanordnung, entgleiten die Fäden ihren Händen. Das merkt Despina noch vor Don Alfonso, der bis zum Schluss verzweifelt versucht, das Experiment zu retten. Für sämtliche Beteiligte gilt, dass sie meinen, alle aufgeworfenen Probleme gleichsam mit links lösen zu können und an dieser Überheblichkeit schließlich scheitern. Nadja Loschky misstraut dann auch dem von Mozart und da Ponte vorgesehenen Happy End und lässt den Abend äußerst pessimistisch ausklingen. Dass die Protagonisten bis an ihr Lebensende unter den Geschehnissen leiden müssen, ist zumindest nicht ausgeschlossen. Kann sein, dass sich bei ihnen auch eine Psychose entwickeln wird. Sicher ist, dass sie einmal in die Fußstapfen des alten Paars treten werden. Wenn beispielsweise der von der Untreue Fiordiligis gänzlich desillusionierte Guglielmo auf einmal in ähnlichen Kleidern wie Don Alfonso und wie dieser mit halb entblößtem Oberkörper auftritt, wird ersichtlich, dass er von der Regisseurin als würdiger Nachfolger des alten Philosophen ins Auge gefasst wird. Das Schlusstableau ist alles andere als Friede, Freude, Eierkuchen. Freundschaften und familiäre Beziehungen haben einen irreparablen Schaden genommen. Auch in dem weiteren Leben der beteiligten Personen wird der Gegensatz zwischen Schein und Sein wohl eine erhebliche Rolle spielen. Das alles wurde von Frau Loschky, die ihren Freud ganz offensichtlich aufmerksam studiert hat, sehr überzeugend und hoch innovativ umgesetzt. Augenzwinkernd hielt sie dabei dem Publikum den sprichwörtlichen Spiegel vor. Die aufgezeigten Konflikte betreffen jeden. Wo einzelne kleine Teile des Librettos ihrem überzeugenden Konzept nicht entsprachen, wurden diese kurzerhand eliminiert, wie z. B. der erste Auftritt von Despina. Auch der Chor fiel dem Rotstift zum Opfer. „Bella vita militar“ wurde nur vom Orchester gespielt.

Irina Simmes (Fiordiligi)

Gesanglich hinterließ die Premiere gemischte Gefühle. Am Premierentag hatte der Krankheitsteufel im Heidelberger Theater zugeschlagen. Erwischt hatte es Wilfried Staber, den Sänger des Don Alfonso. Bereits im ersten Akt, in dem sein gut gestützter, markant geführter Bass merkbar belegt klang, wurde deutlich, dass sich der Sänger, der sich nach der Pause dann auch ansagen ließ, nicht in Bestform befand. Er hielt aber stimmlich trotz der Indisposition gut durch und vermochte schauspielerisch zu begeistern. Darstellerisch blieben auch bei KS Carolyn Franks Despina keine Wünsche offen, sehr wohl aber stimmlich. Ihr nicht gerade mehr taufrischer Mezzosopran saß stark im Hals und wies praktisch gar keine solide Klangkultur mehr auf. Daraus resultierten oft ziemlich schrille Spitzentöne. Auch Irina Simmes hat man schon besser gehört. Wie immer wunderbar war ihre sonore, farbenreiche und emotional eingefärbte Mittellage. In der Höhe neigte sie an diesem Abend aber leider manchmal dazu, vom Körper wegzugehen. Und im unteren Stimmbereich, in dem sie nicht immer gut zu hören war, ist ihr Sopran in puncto Klangvolumen noch ausbaufähig. Lediglich über dünnes, einer soliden tiefen Stütze entbehrendes Tenormaterial verfügte Namwon Huh in der Rolle des Ferrando. Einen trefflichen Eindruck hinterließ Marija Jokovic, die einen in allen Lagen gut fokussierten und tiefgründigen Mezzosopran für die Dorabella mitbrachte. Die Krone der Aufführung gebührte Ipca Ramanovic, der als stimmkräftig und mit bester italienischer Technik singender Guglielmo eine Glanzleistung erbrachte. Man würde ihn gerne einmal mit einer Rolle Verdis oder Puccinis erleben.

Bereits während des Vorspieles wurde offenkundig, dass der Abend auch vom Musikalischen her etwas anders ausfallen würde als man es sonst gewohnt ist. Gad Kadosh animierte das beherzt aufspielende Philharmonische Orchester Heidelberg zu einem markanten, robusten und forschen Mozart-Klang in recht zügigen Tempi, der im weiteren Verlauf des Abends aber etwas delikater und feinfühliger wurde. Insgesamt passte die Auffassung des Dirigenten von Mozarts Partitur gut zum Ansatzpunkt der Regie.

Fazit: Das war spannungsgeladenes, gut durchdachtes und psychologisch ausgefeiltes Musiktheater, dessen Besuch zu empfehlen ist.

Ludwig Steinbach, 11. 5. 2014 Die Bilder stammen von Florian Merdes.