Karlsruhe: „Die Meistersinger von Nürnberg“

Premiere am 27.04.2014

Parodie des Regietheaters

Sehr einfallsreich zwischen altem Libretto und neuen Einfällen

Von der ersten niedergelegten Prosaskizze der Meistersinger (1845 in Marienbad) bis zur Uraufführung am Hoftheater in München 1868 vergingen 23 Jahre. Kein mythologischer Stoff hatte Wagners Fantasie angeregt, sondern verschiedene Lektüren über die historischen Meistersinger mit der belegten Gestalt Hans Sachsens im Mittelpunkt. Die Handlung dazu, die Milieu-Schilderungen, die Charaktere, alles das entsprang Wagners Fantasie, und in diesen Stoff hat er natürlich auch (nicht unberührt von autobiografischen Anspielungen) seine Meinungen zu Kultur, Kunst und Politik sublimiert, weshalb es nicht unwichtig ist, sich stets die Werdenszeit dieses Werks vor Augen zu halten.

vor dem Vorhang: Renatus Meszar als Hans Sachs

Regisseur Tobias Kratzer legt für seine neue Meistersinger-Produktion eine in vielen Punkten originelle Arbeit vor, bei der sich ein wirklich neues Regiekonzept mit einer professionellen, detailfreudigen Durcharbeitung zusammenfindet. Man sieht drei völlig verschiedene Aufzüge, für die der Ausstatter Rainer Sellmaier ein einheitliches Bühnenkonzept (kein Einheitsbühnenbild) und vielfältige Kostüme vorstellt. Wie der Querschnitt durch eine Basilika sieht das Bühnenbild aus: ein breiter großer höherer Mittelraum mit kleiner symmetrischen Nebenräumen, eine Gebäudestruktur der Jetztzeit in Modulbauweise mit Vor- und Hinterzimmer des Mittelsaals, in welchem zu Beginn der Oper ein Chor unter der Leitung von Sixtus Beckmesser Choralsingen übt. Auf einem einfachen Pedestal die überlebensgroße Büste des Bayreuther Meisters, Beckmessers Vorbild. Evchen Pogner fliegt auf Gammler und Penner; mit einem knutscht sie im Vorraum herum, ein zweiter, noch interessanterer kommt vom Hinterzimmer herein; es ist Walther von Stolzing. Die handelnden Personen haben banale Alltagsklamotten an. Die Meistersinger erscheinen als bunt gemischter Haufen von Individuen; keine uniformierte Gesellschaft. Sicher sind einige der Figuren an Promis der Gegenwart angelehnt. Einer hat sein Schoßhündchen mitgebracht; ein anderer muss zwischendurch aus dem Saal, um eine Raucherpause zu machen; einen dritten plagt ein schlimmer Rücken: seine Frau hat eine Schaumstoffmatratze mitgebracht. Beckmesser locker flockig mit umgehängtem Pullover; von Stolzing schlampig mit Jeans und heraushängendem karierten Hemd; Nur Hans Sachs als Schwarzhemd in der Berufskleidung der Künstler. Mit diesen Figuren lässt Kratzer das Geschehen des ersten Aufzugs bruch- und reibungslos nahe am Libretto ablaufen. Eine hübsche, geschlossene Regiearbeit, die das Geschehen ins Hier und Heute verlegt.

Die Meistersinger: Andrew Finden (Konrad Nachtigall), Lucas Harbour (Fritz Kothner), Max Friedrich Schäffer (Kunz Vogelgesang), Renatus Meszar (Hans Sachs), Kammersänger Hans-Jörg Weinschenk (Augustin Moser), Guido Jentjens (Veit Pogner)

Aber was ist das? Im zweiten Aufzug steht im Mittelbau des Bühnenbilds auf einem Drehteller eine lauschige historische Stadtecke mit Fachwerk und kleinem Schusterladen; alles ziemlich einfach auf bemaltem Pappmaché; aber man weiß, was gemeint ist: das mittelalterliche Nürenberg. Der konservative Teil des Publikums wittert Morgenluft und beklatscht schüchtern das Bühnenbild; Kratzer weiß, was das bürgerliche Publikum will: die Mitwirkenden nun in Renaissance-Kostümen. Doch mitten im Fliedermonolog dreht sich die Bühne und Sachs wandert dabei auf eine schräg nach hinten ansteigende elliptische Fläche mit Einbuchtung: eine Malerpalette zwar statt des Wielandschen Rings, Fliedergemälde im Hintergrund, Fliederstrauß auf der Spielfläche: man ist in Neubayreuth angelangt oder einer Parodie darauf, wie auch das historische Eckchen eine Inszenierungsparodie auf Urbayreuth war. Das Inszenierungskarussel dreht sich weiter. Als Beckmesser zum Ständchen auftritt, beginnt eine gekonnte Parodie aufs moderne „Regie“-Theater Da hat Kratzer genau hingeschaut und lässt es an nichts fehlen: Walther und Evchen drücken sich schmusend zwischen blauen Müllsäcken und verzinkten Müllcontainern herum. Die Kulisse zeigt nun einen Plattenbau mit Schusterladen; es ist eine Franchise von Mister Minit, 50 m vom nächsten Döner entfernt. Sachs hockt davor auf einem Bierkasten und repariert Schuhe. Beckmesser bringt zur Begleitung seines Ständchens eine Musikkonserve mit; Strom dafür zapft er in Sachsens Mister-Minit-Laden. Bei Hans Neuenfels hat sich Tobias Kratzer noch eine große Lohengrin-Ratte ausgeliehen und fertig ist das vermüllte Ratten-Desillusionstheater, in welchem Magdalena den Ständchen-singenden Beckmesser mit dem Inhalt einer Kartoffelchipstüte bewirft und das Liebespaar bei Sachs noch schnell zwei Flaschen Bier schnorrt. Döner mampfende Bürger werden vom Lärm angezogen; nun wieder fast alle in historische Renaissance-Kleidung. Die Szene endet bekanntermaßen in einer großen Schlägerei, die hier mit einer solchen Härte geführt wird, dass Opfer auf dem Schlachtfeld bleiben (vgl. Neuenfels Stuttgart 2003).

Daniel Kirch (Walther von Stolzing), Eleazar Rodriguez (David), Renatus Meszar (Hans Sachs)

Den dritten Aufzug zeichnet Kratzer wieder mit seinem eigenen Regiestil. Es ist nicht der humpelnde zerschlagene Beckmesser, dessen Szene vielfach etwas peinlich wirkt. Nein, der kommt wieder frisch und locker im Pulli daher, und setzt sich an Sachsens Flügel, wobei er noch die Vision hat, dass der Bayreuther Meister ihm erscheint. Hingegen hat es David erwischt; der trägt den Arm in der Binde. Aus den noch leblos herumliegenden Personen rekrutieren sich die weiteren Mitspieler im dritten Aufzug. Nach der Verwandlung wird die Wiesn-Szene als ein videoflimmerndes Medienereignis aufgeführt. Der Werbegesang findet in der von roten Vorhängen bedeckten Mittelhalle vor Monitoren statt, auf denen bekannte Wagnersänger (Peter Seiffert, Gösta Winbergh, Plácido Domingo und Lauritz Melchior(?)) flimmern; das Ereignis wird dem Volk draußen öffentlich übertragen. Da er auf der so stark segmentierten Bühne nicht Platz findet, muss der Handwerkschor in den Zuschauerraum ausweichen. Die von den „politisch Korrekten“ problematisierte Festwiese wird szenisch einfach ausgelassen.

Die Inszenierungsstruktur des zweiten Aufzugs als Streifzug durch die Rezeptionsgeschichte der Meistersinger ist schon auf dem Bühnenvorhang angekündigt. Der stellt eine Collage aus Aufführungsplakaten, Besetzungszetteln und CD-Titelbildern vieler Perioden dar, so dass man hier abstrakt stilisierte Ankündigungen ebenso sieht wie Aufdrucke, die denen auf einer Kiste von Nürnberger Lebkuchen gleichen. Als Sachs zu seinem Monolog „Verachtet mir die Meister nicht“ nach vorne kommt, senkt sich dieser Vorhang hinter ihm, und Sachs heftet noch das neue Plakat der Karlsruher Aufführung dazu. Seit man diesen Monolog problematisiert hat und mit zeitgemäßem Dreck bewirft und seit Konwitschnys origineller Antwort in Hamburg auf diese Tiraden, ist man immer besonders gespannt, wie die Regie diesen Monolog ex- oder inkulpiert. Tobias Kratzer hat es sich leicht gemacht: aus einer Kiste, in der Hans Sachs auch „Wagners gesammelte Dichtungen“ aufbewahrt, holte er diese Textsammlung hervor und liest daraus vor. Herr Kratzer wäscht seine Hände in Unschuld!

Renatus Meszar (Hans Sachs), Rachel Nicholls (Eva), Daniel Kirch (Walther von Stolzing)

Mal genau in den Text geschaut, führt Sachs zur Kunst aus: „im Drang der schlimmen Jahr‘ – blieb sie doch deutsch und wahr.“ Welche "schlimmen Jahr‘" kann Wagner Mitte des 19. Jhdts. gemeint haben? Etwa fremdländische Unterdrückung, gar die Franzosen? Aus heutiger Sicht denken wir an andere „schlimme Jahre“ – aber die Worte passen auch. Dann heißt es: „und welschen Dunst mit welschem Tand – sie pflanzen uns in deutsches Land.“ Das müsste man allerdings heute anders schreiben: und Ami-Dunst mit Ami-Tand – sie pflanzen uns in deutsches Land. Was zu inszenieren wahrheitsnah, aber politisch unkorrekt wäre, obwohl wir mit uns mit hündischer Unterwürfigkeit belauschen und unsere Sprache verhunzen lassen. — Ganz korrekt hat sich in Kratzers Inszenierung das Evchen indes zum Schluss auch nicht verhalten. Als Walther – inzwischen in den deutschen Künstler-Mittelstand integriert – in schickem schwarzem Anzug den Schlusschor dirigiert (da hat er nun im gleichen Mittelraum den Sixtus Beckmesser als Chef abgelöst), stiehlt sich das Evchen in den Nebenraum: eben ist ein neuer Gammler eingetroffen; sie scheint nicht abgeneigt… Kratzer beleuchtet abwechslungsreich und gekonnt dieses und jenes; aber er bezieht nicht Stellung. Seine Inszenierung ist mit unzähligen, einer musikalischen Komödie angepassten Einfällen gleichwohl rundum gelungen.

oben: Stefanie Schaefer (Magdalene); unten: Daniel Kirch (Walther von Stolzing), Rachel Nicholls (Eva), Renatus Meszar (Hans Sachs), Armin Kolarczyk (Sixtus Beckmesser)

GMD Justin Brown brachte die drei Aufzüge mit den zwei Vorspielen in ziemlich genau viereinhalb Stunden reiner Spielzeit durch. Dabei begann er mit der Badischen Staatskapelle mit einem flotten Tempo im Vorspiel des ersten Akts, welches etwas uninspiriert dahineilte. Von Pathos und Schwulst hielt Brown indes sein Dirigat durchgängig frei, so brauchte man auch nicht beim x.ten mal Meistersingerthema-Pomp in Ehrfurcht zu erstarren; denn die Staatskapelle bevorzugte einen filigranen, vielfach kammermusikalischen Begleitton mit leichtem Klangfluss und blieb fast immer sängerfreundlich. Viereinhalb Stunden höchste Konzentration und Premierenfieber fordern natürlich hier und da auch ihren Tribut. Dass den gerade die im Festwiesenaufzug sehr exponierten Hörner und Trompeten zahlen mussten, braucht sich j in en Folgevorstellungen nicht zu wiederholen. Nicht zuletzt durch die räumlich komplexe Aufstellung der im Übrigen sehr klangschönen und- kräftigen (Gewaltiger Einsatz des „Wach‘ auf!“) Chöre (Badischer Staatsopernchor und Extrachor; Einstudierung: Ulrich Wagner) kam es im dritten Akt auch noch einigen Unschärfen, die bei Folgevorstellungen vielleicht vermieden werden können.

Ensemble, Badischer Staatsopernchor und Extrachor

Solistisch brannte an diesem Premierenabend kaum etwas an. Offensichtlich haben am Badischen Staatstheater die Meistersinger lange nicht mehr auf dem Spielplan gestanden. Denn bis auf die Gäste befanden sich alle Solisten im Rollendebut. Renatus Mészár gab sich in der Riesenrolle des Hans Sachs keine Blöße und überzeugte bis zur in dieser Rolle sehr fordernde Schlussszene. Sein sicherer und scheinbar mühelos strömender Bassbariton überzeugte im Parlando wie im Arioso mit seiner Klangschönheit und Ausgewogenheit und wies den richtigen dunkel väterlichen Ton aus. Die Spitzentöne mühten ihn hingegen. Guido Jentjens als Gast gab den Veit Pogner kraftvoll mit sehr kultiviertem rundem Bass. Als sein Meistersingerkollege und Schriftwart Fritz Kothner war Lucas Harbour besetzt, der als biederer Buchhalter in Strickweste mit sonorem gut grundiertem Bassbariton gefiel. Als Walther von Stolzing war Daniel Kirch als Gast besetzt. Er schlug sich mit bemerkenswertem schauspielerischen Talent durch die vielen Regievarianten bis zum neu ernannten Meister in schwarzem Anzug; meisterlich setzte er auch seinen geschmeidigen, recht hellen Tenor ein, der sowohl im gut grundierten Parlando als auch gesanglich mit strahlenden Höhen überzeugen konnte – immer mit guter Textverständlichkeit. Armin Kolarczyk überzeugte als Sixtus Beckmesser, den die Regie abseits von allen peinlichen historischen Stereotypen zeichnet und gewissermaßen neu erfindet, mit gewandtem, dunklem Bariton und gelöstem Spiel. Rachel Nicholls als Gast für die Eva besetzt, konnte indes nicht überzeugen; ihre forcierten Höhen wirkten scharf, ihr Parlando-Geplapper war wegen schlechter Aussprache kaum verständlich, und ihr Tremolo wollte nicht recht zu dieser jugendlichen Rolle passen. Besser machte es Stefanie Schaefer als wunderbare Magdalena mit schlankem, gut fokussiertem Mezzo. Das Altjüngferliche hatte ihr die Regie zum Glück nicht zugemutet. Eine sehr gute Partie lieferte auch Eleazar Rodiguez als David ab. Sein gut gestützter bronzener Tenor hebt ihn von den für diese Rolle vielfach eingesetzten leichteren Charaktertenören positiv ab.

Über 15 Minuten ovationsartiger Beifall folgte dem Schlussvorhang; David, und Sachs bekamen deutlich das meiste ab. Eine kleinere Gruppe buhte dem kleinen Regieteam zu, wahrscheinlich die Zuschauer, die bei dem Zuckerbäckerbild aus Pappmaché im zweiten Aufzug spontan geklatscht hatten. Die nächste Aufführung ist die B-Premiere am 07.05. in teilweise anderer Besetzung. Danach kommen die Meistersinger noch weitere fünf Mal bis zum Spielzeitende; darunter eine Operngala mit Albert Dohmen als Sachs und Dmitry Ivashchenko als Pogner am 08.06.14.

Manfred Langer, 28.04.2014
Fotos: Falk von Traubenberg

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