München: „Die Passagierin“, Mieczysław Weinberg

© Wilfried Hösl

Zu den wichtigsten Neuproduktionen an der Bayerischen Staatsoper in letzter Zeit zählt Mieczysław Weinbergs grandiose, bereits 1968 entstandene, aber erst 2010 bei den Bregenzer Festspielen aus der Taufe gehobene Oper Die Passagierin“, die vor kurzem Premiere hatte. Damit ist dem Nationaltheater München ein ganz großer Wurf gelungen. Hier haben wir es mit der wohl besten und bedeutendsten Oper der Jetztzeit zu tun. Es ist unmöglich, von der Passagierin nicht in hohem Maße, extrem und zutiefst ergriffen zu werden und diesen Edelstein ihrer Gattung nicht mit enormer Begeisterung in sich aufzusaugen. Der Eindruck, den diese fulminante Oper an diesem Abend auf das zahlreich erschienene Publikum – es waren nur noch wenige Plätze frei – machte, war gewaltig.

Zugrunde liegt Weinbergs Werk der gleichnamige Roman – im Original: Pasazerka – der polnischen Auschwitzüberlebenden Zofia Posmysz (1923 – 2022), in dem diese ihre Erlebnisse in der Hölle von Auschwitz mit ungemeiner Radikalität schildert und dabei neben der Hauptproblematik von Schuld und Sühne auch auf die Verdrängungsmentalität der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein eindringliches Licht wirft. Seit der Uraufführung der Passagierin war Zofia Posmysz bei fast allen Premieren dieser Oper dabei und begab sich dabei fast immer beim Schlussapplaus auf die Bühne, um den Applaus des stets begeisterten Publikums entgegenzunehmen. Durch ihren Tod kurz vor ihrem 99. Geburtstag konnte sie nun in München nicht mehr dabei sein. Zu bemerken ist, dass die Münchner Neuinszenierung der Passagierin die erste seit dem Tod von Zofia Posmysz ist. Insofern konnte man der sympathischen Autorin und Journalistin, die mehrere Konzentrationslager überlebt hatte, an diesem Abend in besonderem Maße gedenken.

© Wilfried Hösl

Der jüdisch-polnische Komponist Mieczysław Weinberg, der bereits als junger Mann vor der in seine Heimatland einmarschierenden Armee der Nazis sein Heil in der Flucht in die UdSSR suchen musste, wo er den Rest seines Lebens im Exil verbrachte, greift in seiner Passagierin, deren Aufführung in der UdSSR aus ideologischen Gründen lange Zeit verboten war – das hat sich erst kürzlich geändert -, das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte auf: den Holocaust und die Gräuel in den Konzentrationslagern. Das Libretto stammt von Alexander Medwedjew. Weinberg, der einen Großteil seiner Familie in der Shoa verlor, und sein Textdichter haben die Grundstruktur von Frau Posmysz‘ Buch beibehalten und nur wenige Änderungen vorgenommen, um einige Handlungsstränge dem Opernsujet anzupassen.

Geschildert wird die Geschichte der ehemaligen KZ-Aufseherin Lisa, die Ende der 1950er Jahre auf einer Schiffsreise nach Brasilien, wo ihr Ehemann Walter seinen neuen Posten als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland antreten soll, in einer mitreisenden Passagierin einen einstigen Auschwitz-Häftling, Marta, zu erkennen glaubt, die sie längst für tot hält. Diese Begegnung ruft in ihr Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager wach. Ihre verdrängte Vergangenheit steigt zunehmend wieder an die Oberfläche. Sie sieht sich in Auschwitz in ihrer alten Rolle als junge KZ-Wärterin. Ihr gegenüber steht Marta, zu der sie eine ganz persönliche Beziehung aufbaut und der sie sogar ein Treffen mit ihrem ebenfalls gefangenen Verlobten Tadeusz – er ist in Weinbergs Oper im Gegensatz zu Zofia Posmysz‘ Roman nicht bildender Künstler, sondern Geiger – ermöglicht, die sie aber am Ende doch in den Todesblock schickt. Wie Marta dem Tod letztlich entrinnen konnte, ist ein großes Geheimnis, das unaufgeklärt bleibt. Unter der übermächtigen Last ihres schlechten Gewissens gesteht Lisa ihrem entsetzten Mann schließlich alles, wobei auch die Stimmen der Vergangenheit eine ausführliche  Rückschau einfordern: Jetzt mögen andere sprechen! Die Hölle von Auschwitz wird für Lisa zum Inferno ihrer Erinnerungen. Im Folgenden spielen sich die einzelnen Szenen abwechselnd auf dem Ozeandampfer und in Auschwitz ab.

© Wilfried Hösl

Es ist eine geradezu erschütternde Geschichte, zu deren Zeuge das Publikum hier wird. Weinbergs Passagierin stellt einen stark unter die Haut gehenden, beklemmenden Kontrapunkt gegen das Vergessen dar, ein flammendes Plädoyer gegen jede Art des Vergessens mit den Mitteln des Musiktheaters. Von diesem Stück kann man einfach nur begeistert sein. Das war schon Dmitry Schostakowitsch klar. Seinem Postulat Ich werde nicht müde, mich für die Oper Die Passagierin von Mieczysław Weinberg zu begeistern. Dreimal habe ich sie schon gehört, die Partitur studiert, und jedes Mal verstand ich die Schönheit und Größe dieser Musik besser. Ein in Form und Stil meisterhaft vollendetes Werk und dazu vom Thema her ein höchst aktuelles…Die Musik der Oper erschüttert in ihrer Dramatik. Sie ist prägnant und bildhaft, in ihr gibt es keine einzige ‚leere‘, gleichgültige Note. kann man sich nur von ganzem Herzen anschließen. Diese begeisterten Worte des Freundes und großen Mentors Weinbergs befinden sich im Vorwort des bei Peermusic erschienenen Klavierauszuges der Passagierin. Bei dieser Oper handelt es sich um etwas ganz und gar Einzigartiges, um ein Werk von erlesenster Güte, ungemein hoher Kraft und Intensität sowie immenser Eindringlichkeit. In gleichem Maße extrem außergewöhnlich ist die Wirkung, die die Passagierin auf die Zuschauer hat. Diese Oper verlässt man anders als andere Stücke des Musiktheaters. Man fühlt sich in höchstem Maße ergriffen, berührt und sogar beklommen. Die Passagierin erschließt sich dem Auditorium auf einer unterschwelligen, gefühlsmäßigen Basis, die es zunächst kaum spürt, die es dann aber umso stärker packt und ihren Bann zieht.

Weinbergs Musik ist geradezu atemberaubend. Die Klangsprache des genialen Komponisten erinnert stark an diejenige von Schostakowitsch. Als Beispiel hierfür sei nur der Walzer des Kommandanten genannt. Anklänge an Prokofjew und Britten vernimmt man ebenfalls. Die Partitur der Passagierin beruht auf einer erweiterten Tonalität und zeichnet sich obendrein durch Elemente der Zwölftontechnik aus. Gleichzeitig ist der Klangteppich aber ausgesprochen schön und oft auch sehr melodiös. In diesem Zusammenhang seien nur die Lieder der weiblichen Häftlinge, der Choral sowie das herrliche Liebesduett zwischen Marta und Tadeusz im zweiten Akt erwähnt. Und für die von Weinberg angewandte Leitmotivtechnik hat augenscheinlich Richard Wagner Pate gestanden. Die Leitmotive wirken bei der Passagierin im Gegensatz zu Wagner indes nicht direkt, sondern mehr unterschwellig auf den Zuhörer ein. Nichtsdestotrotz bleiben zahlreiche Themen nachhaltig in Erinnerung. Erwähnenswert sind hier insbesondere die musikalischen Zitate aus der Musikgeschichte. Beispiele hierfür sind Bachs Chaconne aus der Partita Nr. 2 d-Moll für Solo-Violine, das Schicksals-Motiv aus Beethovens 5. Symphonie in c-Moll, Schuberts Militärmarsch in D-Dur sowie das Prügel-Motiv aus Wagners Meistersingern. Diese phänomenale Musik geht tüchtig unter die Haut. An diesem Abend brachte sie GMD Vladimir Jurowski zusammen mit dem blendend disponierten Bayerischen Staatsorchester sehr intensiv und in gemäßigten Tempi zu Gehör. Dabei verstand der Dirigent es gut, dem Ganzen einen etwas robusten Anstrich zu geben und die Ecken und Kanten der Musik zu betonen.

© Wilfried Hösl

Zusammen mit Regisseur Tobias Kratzer hat Jurowski das Werk extrem gekürzt. Von den ursprünglich über zweieinhalb Stunden Musik sind nur noch ungefähr zwei Stunden übrig. Alles, was auch nur irgendwie für russische Propaganda ausgenutzt werden könnte, wurde von den beiden gnadenlos eliminiert. Auch die Figur der russischen Partisanin Katja, die Weinberg und Medwedjew eingeführt hatten, um die Zensur gnädig zu stimmen, fiel dem Rotstift zum Opfer. Das Münchner Leitungsteam wollte offenbar nichts unternehmen, was Putin reizen könnte. Vom politischen Standpunkt aus mag dieses Vorgehen verständlich sein, nicht aber vom künstlerischen. Meiner Ansicht nach sind Kunst und Politik strikt zu trennen. Die extrem vielen Striche muteten schon sehr schmerzlich an. Dabei war die Inszenierung insgesamt ganz hervorragend. Kratzer und sein Bühnen- und Kostümbildner Rainer Sellmaier haben ausgezeichnete Arbeit geleistet. Diese Produktion gehört mit zum Besten, was die Rezeptionsgeschichte der Passagierin zu bieten hat. Kratzer begreift die Oper als Parabel, was die Legitimation für den durch und durch modernen Anstrich ist, den er dem Stück angedeihen lässt. Von einer irgendwie gearteten historischen Bebilderung der Auschwitz-Szenen will er nichts wissen und lässt das Ganze durchweg auf dem Ozeandampfer spielen. Diese Vorgehensweise, die man schon andernorts so gesehen hat, ist durchaus legitim. Das kann man machen. An das Konzentrationslager gemahnen nur noch die gestreiften Liegestühle und Handtücher. Die SS-Männer erscheinen als leger gekleidete Reisende, die ihrer vergangenheitsorientierten NS-Gesinnung beredten Ausdruck geben.

Der erste Akt wird gänzlich von den über drei Etagen verteilten  fünfzehn Kabinen des Schiffes eingenommen. Diese öffnen und schließen sich immer wieder und geben den Blick auf ihr Inneres frei. Zusätzlich zu den beiden Ebenen des Ozeanriesen und Auschwitz hat Kratzer noch eine dritte Ebene hinzugefügt: In seiner Konzeption gibt es eine alte Lisa, die im Jahre 2024 mit der Urne ihres Mannes von Brasilien nach Deutschland zurückreist, um die Asche Walters in der Heimat zu bestatten. Sie erinnert sich sowohl an ihre erste Schiffsreise nach Brasilien Ende der 1950 er Jahre als auch an ihre Zeit in Auschwitz von 1942. Nachhaltig wird sie mit der schwarz gekleideten Marta konfrontiert und beginnt, sie und ihre Leidensgenossinnen, die vom Regisseur als Alter Egos Martas dargestellt werden, immer intensiver zu beobachten. Dabei gewinnt allmählich ihr schlechtes Gewissen deutlich die Oberhand. Von Schuldgefühlen geplagt, stürzt sie sich am Ende des ersten Aktes in den Ozean, den man bereits ganz zu Beginn als Projektion gesehen hat. Ein Film zeigt, wie die alte Lisa im Meer versinkt. Ihr Suizid scheint jedoch erfolglos zu bleiben.

© Wilfried Hösl

Der zweite Akt stellt eine Nahtoderfahrung der ehemaligen KZ-Aufseherin dar. An die Stelle der Außenansicht des Ozeandampfers ist dessen Bankettsaal getreten, der von zahlreich herumstehenden Tischen dominiert wird. Diese Reihung von leeren Tischen mit dem Fluchtpunkt in weiter Ferne zeigt auf einer symbolischen Ebene  den Zwang und Drang zur Ordnung bis ins beinahe Unendliche (so Kratzer im Programmbuch). In diesem Ambiente spitzt sich die Handlung zu. Offenkundig wird, dass Lisa Marta in einer Art lesbischer Liebe verfallen ist und auf ihren Geliebten Tadeusz eifersüchtig ist. Wie wild reist sie Marta fast sämtliche Kleider vom Leib, bis diese praktisch unbekleidet, mit nackten Busen und nur noch mit einem Höschen bekleidet,  vor ihr steht. Während des anschließenden Zwiegesprächs zwischen Lisa und Tadeusz liegt Marta längere Zeit lang barbusig auf dem Tisch. Als die beiden schließlich abgehen, stimmt sie, nun ganz allein und immer noch praktisch nackt, ihr auf ein Gedicht von Sandor Petöfi (1823-1849) fußendes Lied an. Zum Tanz erscheinen die Reisenden in eleganten Kleidern. Die SS-Leute sind nun in weiße Marine-Uniformen gekleidet und gehören der Schiffsbesatzung an. Sie sind es, die später im Konzert-Bild Tadeusz ermorden, nachdem dieser statt des vom Kommandanten geforderten Walzers Bachs Chaconne den Anwesenden auf seiner Geige zu Gehör gebracht hat. Am Ende sieht man wieder den mit filmischen Mitteln dargestellten Ozean, auf dem der projizierte polnische Text von Martas Schlussgesang erscheint, den diese unsichtbar aus dem Off singt. Bis auf die leidlichen Kürzungen war die Konzeption des Regisseurs sehr überzeugend und mit Hilfe einer stringenten Personenregie auch ausgezeichnet auf die Bühne gebracht.

© Wilfried Hösl

Vollauf zu überzeugen vermochten die gesanglichen Leistungen. An erster Stelle ist Elena Tsallagova zu nennen, die in jeder Beziehung voll in der Rolle der Marta aufging. Sie verfügt über einen bestens italienisch fokussierten, wandelbaren und gefühlvoll eingesetzten lyrischen Sopran, mit dem sie sämtliche Facetten ihrer Partie mit Bravour zog. Auch darstellerisch begeisterte sie mit intensivem Spiel, wobei sie sich insbesondere nicht scheute, dem Publikum ihre nackten Brüste zu präsentieren. Ebenfalls eine gute Leistung erbrachte Sophie Koch, die mit trefflich sitzendem, üppig anmutendem Mezzosopran die Lisa sang. In der abwechslungsreichen Auslotung ihrer Rolle war Frau Koch ganz groß. Nicht nur vokal, auch schauspielerisch erbrachte sie eine sehr ansprechende Leistung. Seit ich ihn das letzte Mal gehört habe, hat sich der Tenor von Charles Workman deutlich verbessert. An diesem Abend sang er mit solide im Körper verankerter Stimme einen gefälligen Walter. Voll und rund klingendes Bariton-Material brachte Jacques Imbrailo für den Tadeusz mit. Nichts auszusetzen gab es an den tadellosen Stimmen von Daria Proszek (Krystina), Lotte Betts-Dean (Vlasta), Noa Beinart (Hannah), Larissa Diadkova (Bronka) und Evgeniya Sotnikova (Yvette). Die fünf Sängerinnen harmonierten aufs Beste miteinander. Sonore Stimmen brachten Bálint Szabo, Roman Chabaranok und Gideon Poppe für die drei SS-Männer mit. Der Ältere Passagier von Martin Snell zeichnete sich durch eine imposante Tiefe aus. Sophie Wendt (Oberaufseherin, Kapo) und Lukhanyo Bele (Steward) aus dem Sprechtheater sowie Felix Key Weber als Sologeiger rundeten das homogene Ensemble ab. Mächtig ins Zeug legten sich die von Christoph Heil einstudierten Chöre.

Fazit: Der Besuch dieser Passagierin ist nur zu empfehlen. Bis auf die bedauernswerten Striche haben wir es hier mit einer sehr beachtlichen Aufführung zu tun.

Ludwig Steinbach, 18. März 2024


Die Passagierin
Mieczysław Weinberg

Bayerische Staatsoper

Premiere: 10. März 2024
Besuchte Aufführung: 16. März 2024

Inszenierung: Tobias Kratzer
Musikalische Leitung: Vladimir Jurowski
Bayerisches Staatsorchester

Trailer

Buchtipp: