Wird Fidelio bzw. Leonore genannt, und will man sich mit den philologischen Fragen, die zugleich Probleme sind, befassen, die die wahrlich komplizierte Entstehungsgeschichte der Oper(n) begleiten, so wird man um Helga Lühning nicht herumkommen.
Endlich, so möchte man ausrufen, ist es gelungen, die wesentlichen Aufsätze, die die Leonore/Fidelio-Forscherin publiziert hat, in einem Band zu vereinigen. Endlich also konnten 20 Aufsätze – keiner von ihnen entbehrlich, jeder als Teil eines Großen Ganzen rezipier- und genießbar – in der dramaturgisch sinnvollsten Reihenfolge aneinandergefügt werden, um das Bild, das man sich von Beethovens einziger vollendeter Oper heute ehrlicherweise machen kann, scharfzustellen. Sie sind die Früchte einer vierzigjährigen Beschäftigung mit jenem Werk, das Beethoven, wie er selbst bekundete, die „Märtirerkrone“ verschaffte. Lühning hat in gut 30 Jahren all jene Arbeiten vorgelegt, auch in der Alkor-Edition die Leonore-Partitur, bei Bärenreiter einen Fidelio-Klavierauszug und innerhalb der Beethoven-Gesamtausgabe des G. Henle-Verlags die drei Leonore-Ouvertüren herausgegeben, natürlich, möchte man fast sagen, auch das Textbuch, und auch dies natürlich, in den beiden kritisch durchgesehenen, also skrupulös erarbeiteten Versionen der Fassungen von 1806 und 1814 bei Reclam: also als die kanonische Ausgabe.
Wer zum neuen Band mit den zwischen 1988 und 2019 publizierten Aufsätzen greift, hat es mit den drei Hauptthemen Komposition – Produktion – Rezeption zu tun, wobei der absolute Schwerpunkt auf Ersterem liegt. Mit Leonore und Fidelio liegt also ein in jedem Sinne schwergewichtiger Band vor, der zwar nicht alle Rätsel der, wie gesagt, windungsreichen Entstehungsgeschichte zu lösen vermag; auch Helga Lühning, im Vorwort eine Reihe von relevanten Fragen aufstellend, nimmt trotz genauester Quellenkenntnis nicht für sich in Anspruch, jedes Detail geklärt zu haben. Was indes in den letzten über 30 Jahren zumal von der Philologin ausgegraben wurde, um in einem Prozess seltener Musik-Archäologie an einige Eigenheiten der Werk-Entstehung zu rühren, ist für den, der sich ernsthaft für einen Vergleich der ersten mit der letzten Leonore/Fidelio-Fassung interessiert, bei allen verbleibenden Dunkelheiten außerordentlich erhellend. Es ist ja schon eine Kunst, aus den bekanntlich chaotischen Manuskripten des Komponisten, die Schicht über Schicht enthalten, vernünftige Schlüsse zu ziehen; Helga Lühning hat diese Kunst in den letzten vier Jahrzehnten souverän praktiziert. Die Arbeit an den Quellen beginnt, soweit es den Sammelband betrifft, in den späten 80er Jahren, als es galt, die in den frühen 70er Jahren entdeckte sog. Prager Partitur in die gesamte Leonore/Fidelio-Überlieferung einzuordnen – diese Auseinandersetzung ist denn auch eine der wichtigsten, wenn nicht gar die wichtigste Grundlage für eine quellenbasierte Auseinandersetzung mit der zweiten Fassung der Leonore geworden, wie sie 1806 zur Aufführung kam. Fatalerweise aber fehlt in diesen Handschriften „ausgerechnet“ die Arie des Florestan – nb: auf dem Platten-Markt spiegelt sich die Situation derart, dass keine der vorliegenden Aufnahmen der „Leonore 1805“ und der „Leonore 1806“ diese wichtige Nummer in jener Version enthält, wie sie 1805 zum ersten Mal gespielt worden ist. Zwar hätte man mit Helga Lühnings hypothetischer Rekonstruktion eben dieser Arie zwar die Möglichkeit, sich der Urgestalt von Florestans Arie anzunähern. Stattdessen zogen Herbert Blomstedt, J.E. Gardiner und René Jacobs es bei ihren Einspielungen der, wie gesagt: rekonstruierten Leonore von 1805 vor, lediglich eine verkürzte Version der Fassung zu bringen, die wir aus dem Fidelio von 1814 kennen – abgesehen davon, dass Gardiner eine philologisch krude Mischfassung vorlegt und Blomstedt in den 70er Jahren noch nicht wissen konnte, dass sich der Marsch, mit dem 1805 der zweite Akt begann, in einem der beiden Stücke erhielt, die als Bühnenmusik zu Tarpeja WoO 2 bekannt sind. Der spektakuläre Marsch, wie er heute bekannt ist, wurde von Beethoven erst für die 1806er-Aufführung geschrieben, während seinerzeit die Rocco-Arie und 1814 zwei der „heiteren“ Nummern im Singspiel-Ton ersatzlos gestrichen wurden.
Hört man sich den Marsch und die beiden lustigen Nummern, darunter ein Duett mit konzertierender Violine und Violoncello, innerhalb der 2017 vorgelegten Einspielung von René Jacobs an, und liest man, was der Dirigent anlässlich seiner Aufführung für den eigenen Rang der seiner Meinung nach dramaturgisch geglückten, ja: im Finale wesentlich stringenteren, weil spannenderen Leonore von 1805 in Anschlag brachte, könnte man freilich darüber nachdenklich werden, ob der Fidelio von 1814 wirklich die einzige taugliche Fassung der Oper ist. Es stimmt ja: Für Beethoven war mit der Aufführung des Fidelio (ein Titel, der, Helga Lühning weist dankenswerterweise auch darauf hin, seit Beginn der Arbeit an der Oper mit dem weiblichen Titel alternierte) die kompositorische wie dramaturgische Auseinandersetzung mit dem Opus ein für allemal abgeschlossen. Schon 1806 wurde, das hat Gewicht, die erste Fassung gleichsam überschrieben, so dass es heute unmöglich ist, eine philologisch bis ins Kleinste haltbare Fassung jenes Werks wiederherzustellen, das 1805 auf die Bühne des Theaters an der Wien kam. Insofern muss man Helga Lühning zustimmen: „Nicht die nur unvollständig erhaltene Uraufführungsversion repräsentiert die Leonore, sondern die korrigierte und gekürzte Fassung von 1806“ (doch als die Leonore von 1806 im Jahre 2016 im Theater an der Wien in einer halbkonzertanten Aufführung gespielt wurde, integrierte man auch die von Beethoven 1806 gestrichene Gold-Arie in einem Akt philologischer Inkonsequenz in die Partitur. Doch natürlich war’s schön, weil Georg Zeppenfeld den Rocco sang…). Die Aufführungsversion von 1806 hat den schlechtesten Ruf unter den drei mehr oder weniger überlieferten Fassungen der Leonore / des Fidelio; für den Komponisten war auch dies nur ein Zwischenstand, der übrigens – das macht die genaue Quellenkritik – nicht durch irgendeine Gesellschaft wohlmeinender Beethoven-Freunde und Leonore-Kritiker veranlasst wurde. In einem der brillantesten Texte des Bandes demontiert Helga Lühning den von Beethovens falschem Biographen Anton Schindler (Schindler, ein „Schwindler“, wie sie anmerkt) verbreiteten Mythos – und noch einige andere Legenden –, die sich über die Entstehung der zweiten, stark gekürzten Fassung und der Entstehung einiger weiterer Nummern wie der großartigen, schließlich gestrichenen Arie des Pizarro mit Chor aus der Leonore von 1805 „Auf euch nur will ich bauen“ gelegt haben. In diesem Sinn bekommt der Leser auch, nach einer ebenso schlichtweg brillanten, weil werkgerechten, die Eigenheiten, Unterschiede und Ähnlichkeiten herausarbeitenden Studie über die auf Bouillys basierenden, verschiedenen Leonore/Leonora-Opern von Gaveaux, Paër und Mayr (Leonore und ihre Schwestern), den Mythos der angeblichen Geschichtlichkeit der Handlung so serviert, dass man kaum noch einen Zweifel daran haben kann, dass sich die im 19. Jahrhundert ausgesponnene Fait historique der angeblichen Befreiung des (royalistischen!) Gefangenen durch seine Ehefrau eher dem Opernlibretto als irgendeiner belegbaren Tatsache verdankt. Da es gewöhnlich etliche Jahre braucht, dass musikwissenschaftliche Erkenntnisse in populärwissenschaftliche Artikel und Programmheftbeiträge Eingang finden, besteht nun immerhin die Hoffnung, dass sich, trotz gelegentlicher abweichender Meinungen, auch die These durchzusetzen beginnt, dass Beethovens Oper auch deshalb so großartig ist, weil sie einen Idealfall ideal auf die Bühne bringt.
Ideal? Helga Lühning ist keine Doktrinärin. Obwohl sie den Fidelio von 1814 als einzig gültige Opern-Fassung herausstellt – die Quellen lassen angesichts von Beethovens Arbeit keinen anderen Schluss zu –, weiß sie, dass Fidelio einerseits aufgrund des nicht besonders guten Textbuchs als Drama unfertig ist und andererseits nur verstanden werden kann, wenn man die Gattungskreuzungen von Anno 1800 kennt. Sie betont gleichzeitig, dass mit der letzten Bearbeitung Stellen und Züge gestrichen wurden, die doch auch reizvoll sind. Schon die Streichung der zwei oben erwähnten Nummern von 1805 hat, sagt sie, obwohl verständlich, das Gleichgewicht zwischen Singspiel-Raum und heroischer Sphäre ungut verschoben. Einer der Standardvorwürfe an den Fidelio lautet bekanntlich, dass die Singspiel-Nummern zur pathetischen Leonore-Handlung seltsam quer stehen, während in der Leonore von 1805, so René Jacobs, die dramaturgischen Anteile und die Einteilung der Handlung in drei Aufzüge wesentlich ausgewogener sind. Über die Frage, ob das von Treitschke und Beethoven verkürzte Kerker-Finale von 1814 mit seiner schnellen Lösung des Knotens „besser“ ist als die noch mit einem Rezitativ von Leonore und Florestan versehene, auf eine Klimax hinauslaufende Kerker-Szene (weil man schließlich einen „dramaturgischen Fehler“ beseitigte), entscheidet freilich nicht die Philologie, sondern das ästhetische Empfinden – eines Regisseurs, eines Publikums. Trotzdem plädiert sie für eine Offenheit dem Werk gegenüber, weil ein „Werk“ im emphatischen (und Beethovenschen) Sinn im Prinzip niemals existiert hat. Obwohl der Komponist 1814 die definitiv letzte Version fertigstellte, um nie wieder darauf zurückzukommen, hat er die Partitur niemals zum Druck befördert, um es mit einer Opus-Nummer zu versehen. Auf ähnlicher Ebene liegt die Tatsache, dass während der ersten Aufführung des Fidelio die Ouvertüre noch nicht fertig war und die Rocco-Arie nicht gesungen wurde; auch die so zentrale Arie der Leonore unterlag einer Skepsis, die schlichtweg unverständlich ist. Zieht man also aus dem offenen „Werk“ einen Schluss, so müsste er lauten: Auch die beiden (rekonstruierbaren, unsicheren und / oder definierten) Werk-Fassungen von 1805 und 1806 sind in diesem Sinn unmittelbar zu Gott, obwohl Beethoven sie für erledigt erklärte. Dass der Text im 20. Jahrhundert soweit kritisiert wurde, dass er, wie etwa bei Wieland Wagner, einfach weggelassen oder durch komplette Neutextierungen (etwa durch Hans M. Enzensberger) ersetzt wurde: auch dies gehört zum problematischen Umgang mit einem auf seine Weise vollendeten Problem-Stück.
Wie problematisch es ist, erhellt nicht zuletzt aus den überlieferten – oder eben nicht überlieferten Skizzen und Schlussfassungen des Komponisten. Dass zur beliebtesten aller Leonore-Ouvertüren, der dritten also, keine autographen Originalmaterialien existieren, gehört zu den Merkwürdigkeiten der Leonore-Geschichte. Von der nur annäherungsweise erschließbaren Florestan-Arie war schon die Rede. In all den Studien über die schwer entzifferbaren Manuskripte, den von Beethoven korrigierten und wiederum verunklarten Abschriften, den verworfenen Entwürfen, den Verbesserungen, Änderungen und Zurücknahmen (und den Zurücknahmen der Zurücknahmen) enthüllt sich der Schöpfungs-Prozess, der nicht mit ein, zwei Worten charakterisiert werden kann. Es gelingt der Philologin aber selbst dort die Übersicht zu bewahren und dem Leser Kenntnisse zu vermitteln, für deren Verständnis er keine zehn Semester Musikwissenschaft und Harmonielehre studiert haben muss. Die Rekonstruktion der Florestan-Arie, die Erläuterung der Leonore-Arie und der verschiedenen Versionen des Trompeten-Signals, des Quartetts und der Finali, die besonders starken Veränderungen unterlagen, nicht zuletzt der Ouvertüren, sind so spannend zu lesen wie der Vergleich der Florestan-Arie mit der Musik, die Gaveaux, Paër und Mayr der Nummer angedeihen ließen. Mit dem Rückgriff auf verwandte Vorläufer in der Metastasianischen Oper, bei Mozart (Lucio Silla), Domenico Cimarosa und Giuseppe Sarti, erhält der Opernfreund außerdem einen Blick in die Tiefenschichten der Tradition der Kerker- und Ombra-Szene. Dass Beethoven es wieder einmal anders, nämlich charakteristisch, nicht typisch gemacht hat, versteht sich fast von selbst, doch dass Fidelio keine Tradition ausbilden konnte, auch wenn sich Wagner im Liebesverbot, dem Holländer und den Meistersingern auf das „kontemplative Ensemble“ des Kanons „Mir ist so wunderbar“ bezog, steht auf einem anderen Papier.
Durchaus nicht nebenbei kommt der Librettist Beethoven zur Sprache. Es gehört zu den großen Verdiensten Helga Lühnings, dass sie immer wieder darauf verwies, dass Beethoven kein geduldiger Verfertiger einer Musik nach den Texten war, die ihm seine insgesamt drei Autoren Sonnleithner, von Breuning und Treitschke auf den Schreibtisch legten, sondern dass er, im Gegenteil, selbst als musikalischer Dramaturg bestimmte, welche Worte zu vertonen waren; dies gehört, nicht allein in Zusammenhang mit Roccos Gold-Arie, zu den interessantesten Themen des Bands. Zur Klarheit der Analysen tragen auch die Übersichten bei, die in wünschenswerter Deutlichkeit das musikalische und textliche Material strukturieren. In diesem Zusammenhang muss auch auf die Liste der im Buch enthaltenen Faksimile der einzelnen Quellen (Skizzen, Abschriften, Drucke) und das differenzierte Register hingewiesen werden, in dem man die einzelnen Werk-Teile mit eigenen Titeln findet. Apropos Librettist: Es war Beethoven, der „fünfte Librettist“ selbst, der seine Erfahrungen mit dem Egmont in die Florestan-Arie von 1814 hineinbrachte und bei einem fast vergessenen Dichter, dem Herren C.A. Tiedge, die Motivation für Leonores Hoffnungs-Worte fand. Das sind so Früchte eines reichen Forscherlebens, die, um es zu wiederholen, nun zwar für einen abschreckenden Verkaufspreis, doch in schönster Folge(richtigkeit) sortiert und zusammengestellt worden sind. Die Arbeit am „einsamen Werk“, wie Helga Lühning es nennt, hat damit ein Buch gefunden, das in vergleichsloser Weise für Aufklärung sorgt – und Beethoven war ja, als Kind der Revolution, aus deren Schoß die Leonore einst kroch, ein Mann der Aufklärung. Wie diese Aufklärung im Lauf eines mühevollen Arbeitsprozesses einem von Beethoven erwünschten Zustand im Werk angenähert wurde: das kann man nun in beispielloser Gründlichkeit – und mit größter Lesbarkeit studieren.
Theodor W. Adorno, den Lühning nicht zitiert, weil es in ihrem Buch nicht um Musikphilosophie (oder doch nur sehr vermittelt), sondern um die höchst verdienstvolle Kärrnerarbeit am Text und an den nachprüfbaren Fakten geht, Adorno schrieb 1963 in Zusammenhang mit „Euch werde Lohn“ den Satz: Dank sei „eine von Beethovens großen humanen Kategorien“. Heute muss man dem Verlag danken, dass er endlich die gesammelten Aufsätze Helga Lühnings zu jenem „Werk“ das wie kein zweites ihr wissenschaftliches Leben bestimmte, zum Druck beförderte.
Ps: Eine höchst seltsame, ja wunderbare Koinzidenz: Während ich den Band las, wurden gleichzeitig aufgrund des Umsturzes in Syrien die dortigen Staats- und Foltergefängnisse geöffnet und die Gefangenen befreit, die dort zum Teil seit Jahren in schrecklichsten Umständen vor sich hin vegetierten.
Sage noch einer, dass eine 220 Jahre alte Oper von gestern sei!
Frank Piontek, 12. Dezember 2024
Helga Lühning: Leonore und Fidelio.
Vorträge und Aufsätze zu Beethovens Oper
Paderborn, Verlag Brill / Fink, 2024
477 Seiten
164 Euro