CD: „Lanzelot“, Paul Dessau

„Was mich an der Oper interessiert“, sagte der Librettist, „ist die menschliche Stimme im Kampf mit der Partitur.“ Die menschliche Stimme hat hier einiges zu tun – und der Librettist, der bei seinem Tod als der wohl berühmteste deutsche Dramatiker gewürdigt wurde (man hatte da leider den seinerzeit noch putzmunteren Tankred Dorst unterschlagen), hieß Heiner Müller. Sein einziges Opernlibretto aber war rund 25 Jahre vor der Selbstaussage des Dichters von Paul Dessau, einem der profiliertesten DDR-Komponisten, in Musik gesetzt worden. „Lanzelot“ erlebte seine Uraufführung 1969 an der Deutschen Staatsoper Berlin – dies aber war zugleich die letzte Produktion auf ostdeutschem Boden. Der „Staatskünstler“, als den man den großen Musiker gelegentlich im Westen titulierte, hatte zwar eine grandiose Oper vorgelegt, die am ersten Opernhaus der Republik in Szene gesetzt werden konnte, aber damit war die Karriere des Werks auch schon fast am Ende. Wurden die Opern Paul Dessaus regelmäßig mitgeschnitten und auf Schallplatten verewigt, so blieb auch dies damals aus (erst 2021 wurde auf Youtube ein klanglich akzeptabler Mitschnitt der Generalprobe des Jahres 1969 veröffentlicht). Es folgten noch, nur wenig später zwei westdeutsche Inszenierungen, interessanterweise eine unter dem Dirigat Marek Janowskis an der Staatsoper München, das von jüngeren, nun ja, Musikwissenschaftlern als mehr oder weniger reaktionäre Vergnügungsbude abgetan wurde. Dann verschwand der „Lanzelot“ von allen Bühnen. Erst ein ganzes halbes Jahrhundert nach der Premiere wurde der „Lanzelot“ wieder aus dem Fundus geholt, als Peter Konwitschny die Oper am Nationaltheater Weimar inszenierte. Dann kam Corona, weitere Aufführungen wurden abgesagt – und nun wartet nicht allein der Rezensent sehnsüchtig auf eine Wiederaufnahme oder Neuinszenierung des Werks, das nun glücklicherweise als Live-Mitschnitt der Weimarer Produktion studiert, genossen, nachgehört werden kann.

„Was mich an der Oper interessiert, ist die menschliche Stimme im Kampf mit der Partitur.“ Es ist auch die Stimme, besonders aber die Stimme einer Frau, die den Vergleich mit einem anderen Großwerk der deutschen Nachkriegszeit erzwingt. Emily Hindrichs singt, bisweilen durch zweieinhalb exaltierte Oktaven hindurch, im Stil der Marie in Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“: hochdramatisch, erregt, suggestiv, spitzenscharf. Elsa, das Opfer, das Mädchen, das vom „Drachen“ geheiratet und getötet werden soll, entäußert sich in einer extremen Tessitura, und Hindrichs macht das, an Barbara Hannigan (die Marie der Münchner „Soldaten“) erinnernd, schier betörend. Schier betörend ist die Partitur, ja die gesamte Anlage des Werks, dem zwar nicht mit dem Zimmermannschen Begriff von der „Kugelgestalt der Zeit“, aber mit dessen raumakustischen Überlegungen beizukommen ist – was jede Musik-Inszenierung des integralen Großwerks zu einem Kraftakt macht. Dessau organisierte sein Klangmaterial nicht allein mit der größten Differenziertheit eines monumentalen und kammermusikalischen Klangkörpers der Moderne der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, in dem die Solobratsche neben dem Wanzenklavier und das Akkordeon neben allen nur möglichen Schlag-, Zupf, Blas- und Streichinstrumenten agiert. Toneinspielungen (wie die des schrecklichen Donnerns des des „Drachen“) aus allen Richtungen machen den Besuch in der Oper, d.h.: dem realen und symbolischen Raum, zu einem in jedem Sinne allseitigen Hörvergnügen. Auch die tontechnisch gelungene Aufnahme weiß noch etwas von den geradezu körperlichen Qualitäten einer Musik, die so vielfältig und einfallsreich ist, dass sie sich nicht, 50 Jahre trocken liegend, an der Zeit abgearbeitet hat.

Liegt es allein an den enormen technischen Anforderungen des Apparats, dass „Lanzelot“ in der DDR nicht über die erste Serie kam? Dessau selbst, ein bis zur Grenze loyaler Staatsbürger mit anarchischem Potential, war klug genug, den Bezug des Stoffs zur eigenen, schon damals verknöcherten Staatsführung latent in Abrede zu stellen. Die Vorlage, die berühmte Märchenkomödie von Jewgeni Schwarz, also „Der Drache“, die Parabel über den Kampf eines einsamen Helden gegen ein das Volk knechtendes Ungeheuer, konnte sowohl als „Auseinandersetzung mit dem Faschismus“ (O-Ton DDR 1972) als auch als Auseinandersetzung mit dem Stalinismus verstanden werden; als es 1944 in Moskau gespielt wurde, verbot der Vorsitzende der staatlichen Zulassungsstelle für Bühnenstücke in der UdSSR alle Aufführungen nach der Uraufführungen. Kein Wunder: der gefährliche Drache Stalin konnte sich gekränkt fühlen. Erst 1962 konnte es, nach einer, wie wir heute sehen, nur unzureichenden Entstalinisierung, auf eine sowjetische Bühne gebracht werden, doch als sieben Jahre später die „Drachenoper“ (dies der Titel von Müllers Libretto) in der DDR herauskam, war auch hier nur wenig mehr als eine kurze Aufführungsserie möglich – nun lag der Schatten der SED so auf der Oper wie einst auf Brechts und Dessaus Meisterstück von der Verurteilung des Lukullus. Die Utopie einer neuen Gesellschaft, die durch den Drachentöter Lanzelot, der sich zugleich gegen ein opportunistisches Volk zur Wehr setzen muss (all das erinnerte wohl damals zu sehr an die alten und neuen Nazis in der DDR), diese Hoffnung, die vom Heros angestoßen werden soll, war allzu zweideutig, um politisch mit mehr als ein paar wenigen Aufführungen gesellschaftsfähig zu sein. „Alles Gebundene befreit unser Fest. Alles Getrennte vereint unser Fest.“ Das war zwar, im rauschhaften Finale der Oper, nicht jedem hörbar, aber es stand deutlich genug im Text, den der notorisch unzuverlässige Müller dem Musiker zusammen mit Ginka Tscholokowa zur Verfügung gestellt hatte. Da half auch nicht der dem gesungenen Text vorangestellte Prolog, der sich durchsichtig eindeutig gegen die USAmerikanische Einmischungspolitik (Vietnam etc.) wandte. Mag sein, dass auch die Integration eines eigenen Agitprop-Lieds, des „Lieds der Thälmann-Kolonne“ in der Drachenkampfszene, denen, die hören konnten, too much war, um mittel- und langfristig toleriert zu werden.

Für einen heutigen Hörer sind all diese Aspekte so historisch wie zeitlos, auch wenn er nicht zur Kenntnis nimmt, was Peter Konwitschny dem Stoff 2019 in Weimar abgewann. „Dessaus ‚Zauberflöte‘“, wie das Stück von der Dramaturgie beziehungsreich genannt wurde (immerhin ähnelt die verzweifelte Elsa ein wenig der Pamina, Stichwort: Dolch und Tod), hat genug musikalische Meriten, um als Kunstwerk sui generis rezipiert zu werden. Hört man sich die Oper einmal und nocheinmal und wieder an, wird man nicht umhin kommen, festzustellen, dass Totalitarismus auf der Opernbühne viel Spaß macht – wenn sich nicht gerade lyrische Reflexionen auf die Operngeschichte in den Partiturtext einschleichen, die auf ihre Weise Freude machen. Waren auch Richard Strauss‘ Klangästhetik und Stoffe denkbar weit vom „Lanzelot“ entfernt, so machte sich Dessau das Vergnügen, ein Terzett dreier verlogener Freundinnen der Elsa im Stil der drei mythischen Damen der „Ariadne“ kantilisieren zu lassen. Unverstellte Parodie herrscht dort, wo sich der Diktator einen Siegfried-Sänger vorführen lässt, der Wagner direkt zitiert. Hört man ein „barockes“ Konzert, klingt‘s wie ein Widerhall aus den 20er Jahren, die Dessau zwar stark geprägt haben, in denen er jedoch stilistisch nicht stecken blieb – im Gegenteil: seine Palette an Tönen ist denkbar bunt, vom unheimlich impressionistischen, einen paradiesischen Zustand ausmalenden Vorspiel über die „Steinzeit“-Perkussionen zu den Geräusch- und Gesangssequenzen eines durchmischten, ja: Unterhaltungstheaters. Die Aktualität dieses großen Stücks besteht vielleicht weniger in dem, was man gemeinhin „Inhalt“ nennt (der ja nicht zufällig von Konwitschny seines einstigen Anlasses entkleidet wurde), als in der Freiheit und absoluten Kompetenz des Komponisten, der sich einen Teufel um ästhetische Dogmen scherte. Ein Grund mehr, die Aufnahme als das zu preisen, was sie trotz vorliegendem Generalprobenmitschnitt ist: ein Ereignis.

Es liegt nicht so sehr an einzelnen Sängern. „Was mich an der Oper interessiert, ist die menschliche Stimme im Kampf mit der Partitur.“ Herausragend: Emily Hindrichs, der Drache des Oleksandr Pushniak, der Lanzelot des Máté Sólyom-Nagy, der Bürgermeister (der sich zum Präsidenten hochlügt) des Wolfgang Schwaninger und Uwe Stickerts Heinrich. Man spürt, Stichwort „Kampf“, fast unausgesetzt den Druck, der in den Vokalapparaten der Interpreten aufgebaut werden musste, um der Intensität ihrer Rollen gerecht zu werden; wenn Lanzelot nur zusammen mit einem Solovioloncello seine Stimme erhebt, darf sich auch der Hörer vom köstlichen Nerventheater des Paul Dessau erholen. Wunderbar auch der Kater Daniela Gerstenmeyers – und der Chor des Deutschen Nationaltheaters, der zusammen mit dem Chor des Theaters Erfurt und nicht zuletzt dem Kinderchor der schola cantorum weimar der kollektiven Monsterpartei gerecht wird. Dominik Beykirch steht am Pult der Staatskapelle Weimar und hält den Apparat mit all seinen Brutalismen und Lyrismen hervorragend zusammen. „Der Rest ist Freude. Freude der Rest.“ Ita est – im Finale wird die Utopie zum Klang, und der Rest ist eine einzige Freude über die Einspielung einer Oper, von der die meisten Opernfreunde bislang nicht wussten, dass man sie schon seit einem halben Jahrhundert vermisst hat.

Übrigens: Wer das Libretto im gut gemachten, mit einem musikalischen Durchgang durchs Stück (geschrieben vom Dirigenten) und einer Einordnung des Werks versehenen Büchelchen zur Doppel-CD vermisst, könnte es entweder im Netz oder in der Bibliothek finden. Müllers „Drachenoper“ wurde gleich mehrmals, in Dessaus Libretti wie in den beiden Müllerschen Werkausgaben, veröffentlicht, 1975 im vierten Bändchen der schönen Original-Edition des Rotbuch-Verlags, dort zusammen mit seinen „Sechs Punkten zur Oper“, also in „Theater-Arbeit“. Um seine Thesen zu legitimieren, griff Müller damals zum üblichen Mittel: Man zitierte an einer einzigen Stelle irgend einen sozialistischen Klassiker oder einen lebenden Staatsrepräsentanten. In diesem Fall musste Walter Ulbricht dran glauben: Bei Anwendung der komplexen Fließbauweise werde „der Bauarbeiter zum Dirigenten der Baustelle“. Das war listig ausgesucht. Hört man in die Aufnahme hinein, spürt man die Arbeit am monumentalen Bau der Oper – ohne deren Schönheiten aus dem Ohr zu verlieren.

Frank Piontek, 15. April 2023


Paul Dessau / Heiner Müller

Lanzelot

Staatskapelle Weimar

Dominik Beykirch, Leitung

audite 23.448