Über viele Jahrzehnte habe ich Uraufführungen besucht und meistens durchlitten, auf der Suche nach wirklich überzeugenden neuen Lösungen. Gehalten hat sich kaum eine der vom Feuilleton zunächst hochbejubelten Novitäten. Es ist wohl schon so, wie Fischer-Dieskau in seinem letzten Buch schreibt: das musikalisch Mögliche wurde in den letzten Jahrhunderten schon restlos ausgeschöpft, und zwar von den größten Genies der Musikwelt. Was sollte da noch kommen können? Die atonale Musik hat sich in über 100 Jahren nicht so recht durchgesetzt, wohl weil sie allzu brutal der Physiologie des Hörens widerspricht, wie mir ein musikalisch gebildeter HNO-Arzt mal erklärte. Henze hat als unwahrscheinlich produktiver Künstler mit 23 Bühnenwerken, 10 Symphonien und noch mehr Kammermusik immer wieder probiert, akzeptable neue Wege zu gehen. Er scheute auch vor eklektischen Lösungen nicht zurück. Was davon hielt sich im Repertoire? Doch auch politisch nahm er Stellung. Bei der Uraufführung am 9. Dezember 1968 zum „Das Floß der Medusa“ verließen Chor und Solist Fischer-Dieskau das Podium wegen der zunehmenden politischen Agitationen. Es gab sogar Verhaftungen und Prozesse.
Henze folgt in seiner Version der „Manon Lescaut“ unter dem Titel „Boulevard Solitude“ weitgehend der Vorlage von Abbe Prevost, verlegt aber alles in eine erstarrte kalte Gegenwartsgesellschaft, in der jeder einsam ist. Um das Alleinsein zu verdeutlichen also kein Name eines Menschen der Titel, sondern der einer Straße, der „Straße der Einsamkeit“. Das Paar scheitert nicht wie bei den anderen Verarbeitungen am Übermaß der Leidenschaft, sondern am Mangel an Gefühlen. Der Spiegel für die Gegenwart ist überdeutlich. In sieben Szenen wird die Handlung erzählt, siebenmal unterbrochen durch Orchester-Interludien. Manon ist eine Dirne. Der reiche Gönner ist hier der Tenor, und es kommt auch sein Sohn als Liebhaber der Manon vor, der nun wiederum Bass singt. Manon tötet den Alten und muss ins Gefängnis. Es gibt keine Sterbeszene am Schluss, sondern eine Art Orchesterepilog. Musikalisch kommt die polyphone Zwölftonart selten vor, so dass diese seine vierte Oper musikalisch noch am leichtesten zugänglich ist. Besonders die Außenseiter Manon und Des Grieux sind durch Zwölftontechnik charakterisiert, der reaktionären Gesellschaftsschicht ist aber meist konservative Tonalität zugeordnet. Für die steife, stockkonservativ-reaktionäre Zeit um 1952 war das bereits sozialkritischer Zündstoff und schon deshalb erregte das Werk gehöriges Aufsehen, das heute nicht mehr so ganz nachvollziehbar ist.
Die einzige DVD-Aufnahnme, die noch erhältlich ist, ist diese; eine Wiedergabe, die außerordentlich gut gelungen ist. Geradezu genial ist die Regie des Altmeisters Nikolaus Lehnhoff. Auch die Sänger sind sehr passend ausgewählt. Hingebungsvoll widmen sie sich ihren vertrackten Gesängen, bei denen der Laie manchmal gar nicht nachvollziehen kann, woher sie wissen, welchen Ton sie jetzt zu singen haben. Laura Aikin identifiziert sich derart mit ihrer Rolle, dass die Manon plastisch entsteht. Großartig! Tom Fox als Bruder Lescaut gibt dem hier recht fiesen Schurken die hämisch bösartige Kontur und Par Lindskog als Des Grieux, macht die Qualen des so unglücklich ungeschickten Verliebten nachvollziehbar. Trotz dieser hervorragenden Darbietung muss ich gestehen, dass mich diese Musik wenig anspricht und statt Ergriffenheit vor allem ein Gefühl zäher Langeweile zurückbleibt.
Fazit: das Publikum entschied sich eindeutig vor allem für Puccinis „Manon Lescaut“, eng gefolgt von Massenets „Manon“. Schade um die praktisch vergessene feinsinnige und geistvolle Fassung von Auber. Das Schicksal der Gegenwartsopern teilt Henzes Werk: hochgepriesen und schlecht besucht.
P.S. Als CD gibt es über Amazon immer noch die erste Schallplatteneinspielung von Naxos von 1953 mit Elfriede Trötschel und Josef Traxel, dem damaligen Belcanto-Tenorstar. Hochinteressant, die beiden mal in ganz anderen Rollen zu erleben. Doch ohne die ablenkende Optik wurde mir der oben zugegebene Eindruck noch deutlicher.
Peter Klier, 26. April 2023
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