DVD: „Schneeflöckchen“, Nikolai Rimsky-Korsakov

Hier haben wir es mit einer echten Rarität zu tun: Nikolai Rimsky-Korsakovs auf einem Stück von Alexander Ostrovshi beruhender, am 10.2.1882 am Marinski-Theater aus der Taufe gehobener Oper The Snow Maiden, zu Deutsch Schneeflöckchen. Das Libretto hatte der Komponist selbst verfasst, womit er nachhaltig in die Fußstapfen Richard Wagners trat, dessen Parsifal ebenfalls im Jahre 1882 uraufgeführt wurde. Rimsky-Korsakov hat großartige Arbeit geleistet. Seine ganz der Romantik verpflichtete Partitur der Snow Maiden weist einen enormen Klangreichtum auf. Hier haben wir es mit einer recht einprägsamen, expressiven und ausladenden Musik zu tun, die sich zudem durch den stetigen Wechsel von dichten, üppigen Klangtableaus und eher dünn instrumentierten Stellen, wie beispielsweise die Lieder Lels, auszeichnet. Auch a-capella-Passagen kommen vor. Eruptiven, wuchtigen Orchesterwallungen korrespondieren zarte, filigrane Töne. Es ist schon ein sehr ansprechendes Klanggemisch, das von Mikhail Tatarnikov und dem hervorragend disponierten Orchester der Opéra National de Paris bestens zu Gehör gebracht wird. Auf das Erzeugen großer Linien und dem Aufbau von Spannungsbögen versteht sich der Dirigent trefflich. Der von ihm und den Musikern erzeugte Klangteppich atmet große Wärme und enorme Intensität. Dazu kommt eine feine Auskostung der breit gefächerten dynamischen Skala, was ein recht ausgewogenes, abwechslungsreiches und differenziertes Klangbild ergibt.

Da es sich bei der Snow Maiden um eine relativ unbekannte Oper handelt, hier einige Worte zum Inhalt: Die Handlung dreht sich um die junge Snow Maiden, die Tochter von Mutter Frühlingsfee und König Frost. Das junge Mädchen will mit den Menschen zusammenleben und bei diesen die Liebe finden. Sie begibt sich nach Berendei, wo sie von Bobyl Bakula und Bobylikha, einem kinderlosen Paar, an Kindes statt angenommen wird. Dort offenbart sich ihr in Lel die Liebe, der sie indes ablehnt. Umworben wird sie von Mizguir, der sich just in dem Augenblick in sie verliebt hat, als er dabei war, Kupava zu heiraten. Diese ist über Mizguirs Verhalten tief bestürzt und beklagt sich bei dem Zaren Berendey über das Verhalten ihres Bräutigams. Der Zar ordnet daraufhin an, dass derjenige belohnt werde, der erfolgreich um Snow Maiden werbe. Die Geschichte nimmt verwicklungsreich ihren Fortgang. Am Ende findet Kupava die Liebe in Lel, während Snow Maiden unter einem Sonnenstrahl dahinschmilzt. Die Bewohner von Berendei loben die Rückkehr zu den Zyklen der Natur.

Regisseur Dmitri Tcherniakov, der auch für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet, hat sich eine Mäßigung auferlegt, die man von ihm nicht gewohnt ist. Man kennt ihn als durchaus radikalen modernen Inszenator. Hier indes wartet er neben modernen auch mit zahlreichen konventionellen Elementen auf. Den Anfang verlegt er in eine zeitgenössische Tanzschule, in der die Lehrerin Mutter Frühlingsfee und der elegante Geschäftsmann König Frost diskutieren. Die Frühlingsfee studiert mit einer Reihe als Vögel maskierter Kinder einen Tanz ein. Im Folgenden verlagert der Regisseur das Geschehen in einen ausgesprochen naturalistischen Wald, in dem die Bewohner von Berendei in Holzhütten leben. Lediglich Bobil und Bobilika hausen in einem zeitgenössischen Wohnwagen. Auch die gelungenen Kostüme von Elena Zaytseva weisen in unsere Gegenwart. Hier handelt es sich um eine faszinierende, rückwärtsgerichtete Gesellschaft, die versucht, die alten Werte und Traditionen ihrer Vorfahren wieder aufleben zu lassen. Dazu gehört auch, dass sich einige von ihnen nackt ausziehen. Wenn diese Leute im ausgesprochen naturalistischen Wald-Bild des letzten Aktes auf einmal gänzlich traditionell gewandet erscheinen, wird offenkundig, dass sie ihr Ziel erreicht haben. Im Gegensatz zu Snow Maiden sind sie noch nicht bereit, das Unbekannte zu akzeptieren und sich ihm zu stellen. Ihr Anführer ist der Zar, der zu Beginn auf einer Staffelei ein Bild malt. Das Ganze wird von Tcherniakov als Parabel über die widersprüchliche Situation im heutigen Russland inszeniert. Mannigfaltige Parallelen zwischen dem paradoxen Stück und Putins Russland werden aufgezeigt. Der geistige Gehalt der Inszenierung ist mithin schon recht modern. Die konventionellen Bilder stehen dazu in krassem Gegensatz. Mithin hält die Produktion für jeden Geschmack etwas bereit. Auch mit gelungener Symbolik wartet der Regisseur auf, so wenn am Ende als Ausdruck der von dem Tod Snow Maidens ungehindert weiterlaufenden Zeit ein riesiges Rad verbrannt wird

Mit den Sängern kann man größtenteils zufrieden sein. Aida Garifullina singt mit silbern schimmerndem, in jeder Lage voll und rund klingendem und in der Höhe herrlich aufblühendem lyrischem Sopran eine beeindruckende Snow Maiden. Einen imposanten, ebenfalls bestens fokussierten und kräftigen dramatischen Sopran bringt Martina Serafin für die Kupava mit. Die Partie des Lel hat Rimsky-Korsakov ursprünglich für einen Mezzosopran geschrieben. Hier ist sie mit dem Countertenor Yuriy Mynenko besetzt. Nun ist diese Stimmgattung überhaupt nicht mein Fall. Indes kann man Mynenko eine große Ausgewogenheit und Geradlinigkeit des Vortrags nicht absprechen. Ich habe schon mäßigere Countertenöre gehört. Mit sauber dahinfliessendem, trefflich sitzendem Bariton singt Thomas Johannes Mayer den Mizguir. Kraftvolles, vorbildlich fundiertes Tenormaterial bringt Maxim Paster für den Zaren Berendey mit. Einen tiefgründigen, profunden Mezzosopran nennt die Mutter Frühlingsfee von Elena Manistina ihr eigen. Eine stimmgewaltige Bassstudie erbringt Vladimir Ognovenkos König Frost. Tadellos sitzendes Mezzosopran-Material bringt Carole Wilson in die Rolle der Bobylikha ein, während der Bobyl Bakula Vasily Gorshkovs recht flach und überhaupt nicht im Körper singt. Letzteres gilt auch für Vasily Efimov als Waldgeist. Julien Joguet (Maslenitsa), Vincent Morell (Erster Herold), Pierpalo Palloni (Zweiter Herold) und Olga Oussova (Page des Zaren) runden das homogene Ensemble ab. Eine großartige Leistung erbringt der von José Luis Basso einstudierte Chor der Opéra national de Paris.

Ludwig Steinbach, 6. Januar 2023


The snow maiden

Nikolai Rimsky-Korsakov

Bel Air 2021

Best.Nr.: BAC186

2 DVDs