Gelsenkirchen: „Dialogues des Carmélites“

Premiere am 27. Januar 2018

Als das heutige Musiktheater im Revier 1959/60 eröffnet wurde, gab es noch die Schauspielsparte. Wann und warum sie aufgegeben wurde, war nicht in Erfahrung zu bringen. Ähnlich ist die Situation in Hagen, wo mit „Lutz“ allerdings ein Kinder-und Jugendtheater existiert. Ansonsten werden die Spielpläne beider Häuser mit Gastspiel-Produktionen aufgefüllt.

Im Gelsenkirchener Eröffnungsjahr spielte man in Eigenproduktion u.a. „Die begnadete Angst“ von Georges Bernanos. Dieses Drama basiert auf der Novelle „Die letzte am Schafott“ von Gertrud von Le Fort. Die Autorin integriert in die historischen Vorgänge um einen Karmel-Orden während der Französischen Revolution die Figur der jungen Blanche, welche in einem Zustand ständiger Angst lebt. An der geschichtlichen Realsituation ändert sich durch die personale Erweiterung nichts, sie erhält vielmehr einen besonders tragischen Akzent. Die Nonnen des Klosters von Compiègne werden, von den Fanatikern der Französischen Revolution verschwörerischer Machenschaften beschuldigt, zum Tode verurteilt. Blanche, welcher eigentlich die Rettung ihres Lebens in Aussicht gestellt wird, besiegt ihre Angst, sucht den Richtplatz auf und stirbt als letzte ihrer Schwestern unter dem Fallbeil.

Die 1957 an der Scala di Milano uraufgeführte Oper „Dialogues des Carmélites“ von Francis Poulenc (dieser Titel wurde zuletzt auch dem Bernanos-Drama gegeben) ist neben Puccinis „Suor Angelica“ das wohl einzige Musikdrama, welches Nonnen in den Mittelpunkt stellt und damit eine komplett weibliche Besetzung erfordert. Bei Poulenc gibt es freilich noch den Marquis de la Force und seinen Sohn. Beide sprechen sich gegen den Klosterentscheid Blanches aus. Später wird der Bruder versuchen, das Mädchen angesichts der politischen Umstände zum Verlassen des Ordens zu bewegen. Daneben einige Chargenrollen. Das zentrale Geschehen bleibt jedoch auf die Frauenfiguren beschränkt. Für den bekennenden Katholiken Poulenc bot diese Konstellation Gelegenheit, sein eigenes Glaubensideal zu theatralisieren und mit tragischen Zügen anzureichern. Seine Oper vermag noch immer zu erschüttern.

Der Komponist, in seinen jungen Jahren eigentlich so etwas wie ein „enfant terrible“, sucht in seinem Alterswerk die Tiefen von menschlichem Empfinden auf. Dabei erlaubt er sich – wir befinden uns wohlgemerkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – eine tonale Schreibweise auf modaler Basis, die nur gelegentlich dissonant zäsiert wird, wo es für die Handlung sinnvoll ist. In Gelsenkirchen lässt RASMUS BAUMANN mit der NEUEN PHILHARMONIE WESTFALEN den oft schmerzlichen Charakter von Poulencs Musik fast körperlich beklemmend zur Wirkung kommen.

Die Inszenierung von BEN BAUR (am MiR stellte er sich mit einem bestechenden „Dion Giovanni“ vor) lässt sich im Grunde in wenigen Worten resümieren: mit wenig Aufwand viel erreicht. Zunächst überrascht, dass er sich als sein eigener Bühnenbildner zusammen mit UTA MEENEN (Kostüme) historisch festlegt. Mal keine Verlegung in ein irgendwie geartetes Heute, sondern ein Befolgen der Zeitvorgabe des Sujets (ohne Übertreibungen im Detail). Er hat einen Riesenraum entworfen, eine Art von Bibliothek, deren hohe Seitenregale jedoch leer sind und wo einzelne Bodenbretter zusammengefallen sind Er bleibt in seiner Leere während der ersten beiden Akte unverändert bestehen, hier und da modifiziert durch brennende Kerzen, ein Kruzifix oder ein paar Hocker. Im dritten Akt werden die Wände (von kostümierten Statisten) zu immer neuen Arrealen verschoben. Für die zunehmende Lebendigkeit der Bühnenvorgänge sorgt automatisch auch der von ALEXANDER EBERLE präparierte Chor (Revolutions-Mob). Zuvor setzt Baur jedoch auf intimes Kammerspiel. Viele der vom Libretto vorgesehenen Figuren erscheinen lediglich als (teilweise überdimensionale) Schatten (Video: KEVIN GRABER), was bei den Angstvisionen von Blanche besonders stimmig wirkt. Dieses visuelle Prinzip gönnt dem Zuschauer zudem ausreichende Ruhe, um sich auf das (wenig äußerliche) Geschehen und inszenatorische Fingerzeige (Gestik, Mimik) zu konzentrieren. In ihrer Dezenz und Beschränkung auf Wesentliches wirkt die Regie überaus dringlich.

PIOTR PROCHERA (Marquis), die Nonnen (solistisch hervortretend: SILVIA OELSCHLÄGER, LINA HOFFMANN) sowie EDWARD LEE (Beichtvater), APOSTOLOS KANARIS erster Kommissar) und ZHIVE KREMSHOVSKI (verschiedene Partien) geben eine gute Besetzung ab. Ausnahmslos hervorragend ist die Besetzung der Protagonisten. BELE KRUMBERGER macht Blanches Ängste beklemmend deutlich und singt mit sensibler Emphase. Die Mère Marie verkörpert ALMUTH HERBST mit der starken vokalen Autorität ihres höhensicheren Mezzosoprans und lässt auch spüren, dass sie darunter leidet, nicht als neue Priorin ernannt worden zu sein. Zu dieser wird nämlich eine Außenseiterin erkoren, intensiv dargestellt und gesungen von PETRA SCHMIDT. Als alte Priorin lässt NORIKO OGAWA-YATAKE in ihrer ausgedehnten Sterbeszene auch gesanglich nachdrücklich spüren, dass diese die angenommene Ordensstrenge möglicherweise nicht voll verinnerlicht hat. Der immer so heiteren Constance leiht DONGMIN LEE ihren lichten Sopran (längere Zeit war die Koreanerin am Kölner Opernstudio zu erleben). Der Chevalier de la Force, Blanches Bruder, ist zwar keine große Partie, aber IBRAHIM YESILAY lässt sie mit seinem wohltönenden Tenor zu einer wichtigen werden. Seine offenbar leicht inzestuösen Gefühle für Blanche sind ein interessanter inszenatorischer Akzent.

Ben Baur verzichtet auf ein spektakuläres Finale. Die Nonnen stehen vor einem Zwischenvorhang, singen ihren Abschied vom irdischen Leben frontal ins Publikum. Wenn das Beil der Guillotine krachend herabfährt, bläst die jeweilige Delinquentin ihre Kerze aus und geht langsam ab. Einfachheit ist oft die stärkste Waffe einer Inszenierung.

Gebührende Stille nach diesem finalen Bild, dann berechtigt rauschender Beifall.

Christoph Zimmermann 31.1.2018

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