Vorstellung am 3.10.2016, Premiere am 27.9.16
Seitdem das Theater an der Wien nun auch die Kammeroper als innovatives Zweithaus bespielt, liegt der Tenor der bisher dort gezeigten Produktionen darin, den Blick für eine intellektuelle Betrachtung zumeist bekannter Opernstoffe zu schärfen. Es wird dabei bei den Besuchern beiderlei Geschlechtes vorausgesetzt, dass sie das jeweilige Werk schon einmal gesehen haben und daher kennen. Koproduziert mit Operafront Amsterdam, wo die Produktion bereits im August beim Grachtenfestival gezeigt wurde, gelangte sie nun in neuer Besetzung in die Kammeroper. Der Komponist Moritz Eggert (1965*) kürzte Verdis Original auf knappe 90 pausenlose Minuten und orchestrierte diese Fassung gemeinsam mit Jacopo Salvatori (1986*). Zu hören war also eine traviata remixed, bei der eine Violine, ein Voloncello, eine Flöte und eine Piccoloflöte, eine Klarinette samt Bassklarinette, ein Sopran- und ein Altsaxophon, eine Trompete, sowie eine Posaune und eine Bassposaune, ein Akkordeon, eine E-Gitarre und ein E-Bass, Mallets (=Stabspiele) , Drumkit (=Schlagzeug), Klavier, Keyboard und ein Synthesizer von insgesamt 13 Musikern und Musikerinnen gespielt, gezupft, gestrichen, geblasen, geschlagen und sonst wie bedient wurden.
Während die Gesangslinien hörbar der Vorlage Verdis folgten, trat die Orchesterbegleitung oft in einen grellen Gegensatz, der zu einer interessanten Verfremdung der sattsam bekannten Melodien führte. Passend aber für die Sichtweise der niederländischen Regisseurin Lotte de Beer ist ihre zynische Darstellung der Nomophobie, also der Smartphone Sucht, von der in der heutigen Zeit bereits so viele Menschen betroffen sind. Unter http://www.hypnobeep.com/ ist dazu Folgendes zu lesen: „Von der Sucht betroffen sind überwiegend Teenager, Studenten sowie Personen mittleren Alters. Die Symptome der Handysucht ähneln denen der Drogensucht. Die Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit der Betroffenen sind ähnlich verheerend.“
Und jeder Augenblick im kurzen Leben des Partygirls Violetta Valéry wird nun damit verbracht, im Minutentakt nach neuen SMS, Twitter-Tweets, WhatsApp-Nachrichten oder Facebook-Updates zu schauen, „Likes“ zu vergeben oder Selfies zu schießen. Und auch das reduzierte Personal dieser Fassung, die Gebrüder Alfredo und Giorgio Germont und Flora tragen ihre Smartphones wie Waffen „schussbereit“ mit sich. Was für eine erschreckende Abbildung der alltäglichen Realität!. In groben Zügen folgt die Handlung der Vorlage von Verdi, Vater Giorgio wird aber in dieser Fassung zum Bruder von Alfredo. Die nunmehr zur biederen Hausfrau gewandelten Violetta hält er das von ihr verursachte Familienunheil in Zeitungsartikeln vor Augen, die sie als „Politfamilie“ zerstörende „Drogenhure“ diffamieren. Alfredo „bezahlt“ Violetta handgreiflich für die erlittene Trennung, indem er sie zusammenschlägt, was in weiterer Folge den Verlauf ihrer unheilsamen Krankheit bis zum letalen Ende nur beschleunigt.
Hinter dem Ausstattungsduo Clement & Sanou verbirgt sich das seit 2004 zusammenarbeitende Designerduo Eddy van der Laan und Pepijn Rozing, die einen weißen Raum, der als Bühne auf der Bühne diente und mit einer Art Kamerablende geöffnet und verschlossen werden konnte, auf die Bühne stellte. Die Handlung erläuternden Videoprojektionen steuerte Finn Ross bei.
Am besten gefielen mir die Dänin Frederikke Kampmann als tragische Violetta mit ihrem hellen Sopran und der Italiener Matteo Loi als Giorgio Germont mit profundem warmem Bariton. Angestrengt hörte sich für mich hingegen der Kolumbianer Julian Henao Gonzalez als Alfredo an, dessen Tenor an diesem Abend in der Höhe äußerst angestrengt klang. Die abchasische Mezzosopranistin Anna Marshaniya gefiel in der Doppelrolle der Flora und Annina mit schöner Linienführung und ausdrucksstarkem Spiel. Und auch Florian Köfler, der seinen erdigen Bass gleich drei Rollen, Douphol, Grenvil und Giuseppe, verlieh, trug zum großen Erfolg dieses Abends bei. Zur Regie wäre noch zu sagen, dass ich mir für den Bolero im fritten Akt eigentlich eine Choreographie erwartet hätte, diese blieb die Regisseurin aber leider schuldig.
Die Produktion dürfte dem Publikum des ausverkauften Theaters am Heumarkt sehr gefallen haben, denn es spendete allen Beteiligten und dem finnischen Dirigenten Kalle Kuusava, der das Wiener Kammerorchester mit Verve durch diese ungewohnte Fassung für Kammerorchester gesteuert hatte, ausgiebigen Applaus.
Harald Lacina, 4.10.