Kontrapunkt: „Hosenrollen und Genderfluidität“ – eine Klärung

Auffassung des Regisseurs Robert Carsen zu seiner Inszenierung von Mozarts „Clemenza“ in Salzburg: „Wir leben in einer Zeit der Gendervielfalt und Genderfluidität, und unter nur sechs Solist.innen [gegendert à la Salzburger Programmhefte] zwei Frauen zu haben, die vorgeben, Männer zu sein, ist einfach nicht mehr möglich. Wir zeigen Sesto ebenso wie Annio als Frauen.“

Damit wird insinuiert, dass wir tatsächlich in einer Zeit leben, in der Hinz und Kunz das Geschlecht – vielleicht nicht wie das Unterhemd, aber eventuell wie die Hose – wechselt, was ganz und gar nicht der Realität unserer mittel- und westeuropäischen Bevölkerungen entspricht, sondern nur einem gewissen, von einer überrepräsentierten und privilegierten, mächtigen und sehr lauten Minderheit propagierten Narrativ, vor allem in Deutschland.

Nach den Erhebungen des dortigen Statistischen Bundesamtes ist die Zahl der geschlechtsangleichenden Operationen (also ein wesentliches Zeichen von Genderfluidität) von ca. 1.500 im Jahre 2016 auf ca. 2.600 im Jahre 2021 angestiegen. Das macht zwar nur etwa drei Zehntausendstel oder 0,0000301 Prozent der deutschen Bevölkerung von derzeit etwa 83,5 Millionen aus, bleibt aber auch noch weit unter einem Prozent, wenn wir die sich fluid nicht-binär, weiblich im männlichen oder männlich im weiblichen Körper Identifizierenden und nicht „geschlechtsangeglichenen“ Individuen hinzurechnen. Kann man da von „einer Zeit der Gendervielfalt und Genderfluidität“ sprechen, als sei es der Normalfall?

Danke an Peter Klier

Und dann ist Folgendes zu bedenken, wenn man sich einmal die Gründe für das Entstehen von Hosenrollen vor Augen führt. Das hatte nämlich durchaus seine Logik. Im 17. und 18. Jahrhundert war die Hörerwartung auf sehr hohe Stimme auch bei den männlichen Opernrollen ausgerichtet. Deswegen und aus dem päpstlichen Verbot, Frauen-Soprane in kirchlichen Chören auftreten zu lassen, entstand die Tradition der Kastratensänger. Selbst ein Tyrann wurde auf der Bühne mit einer hellen Kastratenstimme mehr geschätzt als mit einer zu seinem Charakter wohl eher passenden dunklen Stimme, was sich mehr oder weniger erst im 19. Jahrhundert fundamental änderte. Damals spielten Bass- und Baritonstimmen ohnehin kaum eine Rolle, allenfalls in Nebenpartien. Mit der Einstellung der Kastrationspraxis stellte die Besetzung von Männerrollen in Sopran- und Altlage ein großes Problem in der Alten Musik dar. Man behalf sich mit Countertenören, aber kam eben auch auf die Hosenrollen, ließ also eine Frau in ihrer normalen Lage – Sopran oder Alt – als Mann verkleidet singen. Und dieser Brauch hat sich in einigen Opern lange erhalten, bis hin zu Richard Strauss im 20. Jahrhundert. Ja, er wird sogar in der Aufführungspraxis Alter Musik heutzutage immer wieder kultiviert. Wenn man also nun die Hosenrollen als Frauen zeigt, stellt man die Begründung und Logik der Hosenrolle auf den Kopf und verändert damit die Dramaturgie des Stückes elementar. Nun sind Vitellia und Sesto in der Salzburger „Clemenza“ einerseits und Annio und Servilia andererseits auf einmal lesbisch, als ob das in Mozarts Stück keinen Unterschied machte, ja sogar, als ob es Mozart so gewünscht hätte. Was Wunder, dass die Salzburger Inszenierung dann auch immer wieder befremdend bis ungeschickt (auf gut Österreichisch „patschert“) wirkte. Die Frage ergibt sich sofort: Wie würde Carsen nun „I Capuleti e i Montecchi“, „Hänsel und Gretel“, „Der Rosenkavalier“ oder „Ariadne auf Naxos“ et al. inszenieren?! Opernintendanten, nehmt Euch in Acht!

Klaus Billand, 5. Oktober 2024


PS vom Herausgeber

Diese Zeilen sollten ursprünglich in der Clemenza-Besprechung von unserem Kritiker Klaus Billand stehen. Wir hielten sie aber für wichtig genug für einen separarten KONTRAPUNKT – diese wichtigen Sätze wären sonst untergegangen.

Zusätzlich möchten wir nochmal auf den wichtigen Aufsatz des Autors zu dem Thema hinweisen. Bitte anklicken.

Peter Bilsing 5. Oktober 2024