Graz: Eigenes und Importiertes auf hohem Niveau

8. Juli: Schloss Eggenberg, 12. Juli: Listhalle, 13. Juli: Stift Rein

STYRIARTE 2019

Die einen Monat lang dauernde Styriarte mit weit über 40 Einzelveranstaltungen bietet natürlich nicht nur Eigenproduktionen, sondern lädt immer auch Bewährtes und Beliebtes ein. Dieser Bericht lässt sehr schön einen Vergleich zwischen Eigenem und Importiertem zu – da gab es zunächst das alljährliche Fest im Schloss Eggenberg als Eigenproduktion unter dem Titel Schule der Liebe, dann gab es in der Listhalle mit Seaven Teares ein Jazz-Gastspiel von Christian Muthspiel und tags darauf im nördlich von Graz gelegenen Welt-ältesten Zisterzienserkloster Stift Rein Jordi Savall mit seinem Biblischen Tiergarten.

Vorweg mein Gesamteindruck: alle drei Aufführungen waren von hohem Niveau – in einem Fall bringe ich persönlich gefärbte Einschränkungen an.

Das Schloss Eggenberg und sein Park ist seit 2010 UNESCO-Welterbe. In der Begründung für diese hohe Auszeichnung ist ausdrücklich die schwierige und museal vorbildlich gelöste Aufgabe Vom Leben in einem Gesamtkunstwerk erwähnt – und was wäre ein Gesamtkunstwerk ohne musikdramatischen Inhalt! Schon allein deshalb ist der Styriarte sehr zu danken, dass es hier jährlich ein prächtiges Spektakel gibt, das die Räume, ihre Kunstwerke, Musik, Bewegung und Text zu einem wahrhaften Gesamtkunstwerk verbindet. Dies ist in diesem Jahr dem erfahrenen und bewährten Dioskuren-Paar Thomas Höft (Konzeption & Regie) und Michael Hell (musikalische Konzeption) besonders gut gelungen. Im Zentrum des Abends, an dem 600 Menschen – organisatorisch sehr geschickt in Gruppen geteilt – durch und um das Schloss wanderten, stand diesmal Venus and Adonis – a Masque for the entertainment oft the King – von John Blow (1649 – 1708), ein Werk das 1683 entstand und als erste englische Oper gilt. Dieses Werk wurde höchst stilgerecht im Planetensaal des Schlosses aufgeführt, der genau um diese Zeit fertig gestellt wurde.

Die Neue Hofkapelle Graz (NHG ) ist wie in den Jahren davor das höchst solide und musikantische Fundament der Aufführung. In barocker Tradition leiten Lucia Froihofer (Violine) und Michael Hell (Cembalo & Blockflöte) die Formation in Doppeldirektion. Dazu kam diesmal – durchaus zu englischer Musiziertradition passend – ein exzellenter und weltweit vielfach ausgezeichneter Grazer Schulchor, der HIB.art.chor unter der Leitung von Maria Fürntratt, der höchst charmant die Amoretten und die Grazien darstellte und präzise und wortdeutlich sang. Auch die wichtige Solopartie des Cupido war mit einem 14-jährigen Mädchen dieses Chors ausgezeichnet besetzt – neben diesem jugendlichem Charme samt natürlicher Musizier- und Spielfreude war es für übrigen Solisten gar nicht ganz leicht zu bestehen. Aber die Solisten waren klug gewählt.

Die erfahrene englische Barockspezialistin Sophie Daneman gestaltete die Partie der Venus hervorragend – vor allem die Lamentoszene am Ende war großes Musiktheater und berührte. Der deutsche Bassbariton Norman D. Patzke war ein sonor-viriler Adonis. Rund um dieses zentrale Werk des Abends brillierte in der Schlosskirche Andreas Böhlen auf der Blockflöte und auf dem Saxophon mit Variationen über den berühmten Flöten-Lusthof von Jacob van Eyck. Dann war man unterwegs zu den „verliebten“ Gemälden in der Alten Galerie und erfuhr vieles über die Geschichte des Schlosses. Im Schlossgraben erhielt man Erfrischungen und wurde durch eine wunderbare Artistentruppe erfreut.

Zum Finale trafen sich alle Ausführenden und Publikumsgruppen wieder im Schlosshof und musizierten am Ende gemeinsam Der Mond ist aufgegangen. Ein wunderbarer barocker Abend, ein wahrhaftes Gesamtkunstwerk ging nach vier Stunden, die nie Längen hatten, mit großem Beifall zu Ende.

Das Jazzgastspiel Seaven Teares mit dem Christian-Muthspiel-Quartett in der Helmut-List-Halle war dann ein richtiges Kontrastprogramm. Ausgangspunkt ist auch hier englische Musik – der berühmte und zutiefst melancholische Zyklus Lachrimae, or Seaven Teares , von John Dowland für fünf Gamben und Laute geschrieben.

Christian Muthspiel hatte diese Dowland-Musik für Jazzquartett bearbeitet und reist damit seit 2012 sehr erfolgreich durch ganz Europa, wie man auf seiner Homepage nachlesen kann. Auch 2019 ist er mit identem Programm, aber mit neuen Quartett-Partnern unterwegs – an den beiden Tagen vor dem Grazer Konzert war das Quartett in Oberösterreich und in Wien. Da erlebt man durchaus virtuoses Spiel und professionell-routinierte Moderation, die sich auch durch Technik-Probleme nicht aus der Fassung bringen lässt, aber in dieser elektroakustischen Verfremdung und dynamisch-klanglichen Verflachung berührt mich die Dowland-Musik nicht. Und ich war nicht der einzige im Saal, der das so empfunden hat, wie ich aus Gesprächen weiß. Allen interessierten Musikfreunden sei empfohlen, sich selbst einen Eindruck zu verschaffen: Das Konzert wurde aufgezeichnet und kann am 28. Juli in Radio-Steiermark nachgehört werden.

Erst am nächsten Tage beim Konzert von Jordi Savall mit den von ihm gegründeten Ensembles La Capella Reial de Catalunya und Hespèrion XXI wurde mir so recht bewusst, was ich bei Muthspiels Konzert vermisst hatte.

Es ist ja wirklich eine eigentümliche Fügung, dass Jordi Savall – so wie Christian Muthspiel mit seinem Dowland-Programm – auch seit 2012 mit diesem Programm der christlichen Tierbilder in der spanischen Musik des 12. und 13. Jahrhunderts europaweit unterwegs ist. Savall hatte das Programm nach dem Tode seiner Frau Montserrat Figueras zusammengestellt, wie der Interessierte hier in einem Programmheft vom April 2012 nachlesen kann.

Das Wunder aller Konzerte mit Jordi Savall ist für mich, dass es ihm und seinen Ensembles immer gelingt, an jedem Abend dem Publikum die absolute Frische, ja Neuheit der aufgeführten Musik zu vermitteln. Es ist für mich ein Wunder, wie die jahrzehntelange Routine im Moment der Aufführung die Musik neu, erfrischend und anrührend entstehen lässt. Das zeugt von wahrhafter Meisterschaft.

Es war natürlich auch der gewählte Aufführungsort ein besonderer. Das Zisterzienserstift Rein nördlich von Graz wurde 1129 gegründet. Es ist das älteste Zisterzienserkloster der Welt, das ohne Unterbrechung aktives Kloster ist. Die barockisierte Basilika wurde 1138 eingeweiht. Und an diesem Ort erklangen nun spanische Gesänge aus dem 12. und 13.Jahrhundert, die in der königlichen Zisterzienserinnenabtei in Burgos aufgezeichnet wurde. Dazu gab es Ausschnitte aus den Cantigas de Santa María, die der weise kastilianische König Alfons X aufzeichnen ließ. Das Programmheft schreibt dazu: In den Manuskripten sind zahlreiche Miniaturen enthalten, die das Leben am Hofe Alfonsos abbilden. Und so sieht man Spielleute mit arabischem Kopfschmuck, Musiker mit jüdischen Kappen und sogar Frauen, die gemeinsam mit Männern musizieren. Alle gemeinsam stimmen Loblieder auf die Jungfrau Maria an, die im Stile der Troubadourkunst als „Hohe Dame“ besungen wird.

Genau das erlebt man nun durch die exzellente Musikerschar, die Jordi Savall um sich versammelt hat: vier Sängerinnen, vier Sänger und acht Instrumentalisten, die in einer unglaublichen dynamischen und klanglichen Vielfalt diese mittelalterliche Musik prachtvoll erklingen lassen (natürlich ohne jegliches elektroakustisches Hilfsmittel!) – zehn von ihnen waren übrigens schon 2012 dabei. Und an diesem Abend denkt man wehmütig an die Dowland-Musik des Vortags zurück und wünscht sich, dieses Werk auch in Graz einmal in Savalls Interpretation zu hören. 2019 müsste man dazu nach Salzburg reisen – dort spielt nämlich Savall die Seaven Teares demnächst in der Ouverture-spirituelle.

Und eines sei auch betont: unvergleichlich ist nicht nur die musikalische Meisterschaft, sondern auch die unprätentiöse Art von Jordi Savall, mit der er sein Ensemble leitet, aber auch die Verbeugungen organisiert und die Zugabe ansagt. Die Zugabe war eine Hymne an Maria, bei der das Publikum bereitwillig den Refrain Ave Maria auf Savalls Einsatzzeichen mitsang. Dem Zauberer Savall ist es wieder einmal gelungen, das Publikum völlig in seinen Bann zu ziehen. Der Abend war sicher ein Höhepunkt der Styriarte 2019. Aber Achtung: weitere Höhepunkte stehen bevor – Der Concentus Musicus spielt Bachs Brandenburgischen Konzerten und – als Finale der styriarte 2019 inszeniert Jordi Savall Shakespeare-Metamorphosen in Orchestersuiten von Robert Johnson, Matthew Lock und Henry Purcell: A Midsummer Night’s Dream

Natürlich wird auch darüber im Opernfreund zur gegebenen Zeit darüber berichtet werden!

16. 7. 2019, Hermann Becke