Graz: Subtiles zur Lust

Il Decamerone – Lust auf Mozart – 8. und 12. Juli 2021

Auch diesmal seien wieder zwei Abende in einem Bericht zusammengefasst – und natürlich standen auch diese beiden sehr gut besuchten Veranstaltungen in der Helmut-List-Halle unter dem Generalmotto der diesjährigen Styriarte Lust.

Zum gewählten Motto liest man im Styriarte-Magazin:

Sigmund Freud ist Kulturhistoriker, und er ist sich sicher, den Kern des menschlichen Lebensantriebs gefunden zu haben: die Lust allein! Lust ist für Freud der Lebensmotor des Menschen. Von der Geburt an habe es der Mensch mit drängenden Bedürfnissen zu tun, die unbedingt gestillt werden müssen: Durst, Hunger, Wärme. Aber auch Sexualität, der Wunsch nach Geborgenheit, das Bedürfnis nach Kommunikation, nach all dem dränge es den Menschen. Auf all das hat er, hat sie unbändige Lust. Freud nennt diesen Drang Libido. Und er findet keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der Lust auf eine Erdbeere und der Lust auf ein Geschlechtsteil, die moralische Wertung sei ausschließlich äußerlich. Damit bringt er vor allem konservative und klerikale Meinungsführer gegen sich auf.

In den drei Geschichten aus dem Decamerone von Giovanni Boccaccio, die Karl Markovics im Abend Il Decamerone am 8. Juli vortrug, geht es überaus freizügig und lustvoll zu. Und wahrlich lustvoll und plastisch-temperamentvoll trug der als „Superstar des heimischen Films“ apostrophierte Künstler die Texte mit seiner hellen, überaus variationsreichen Stimme in drastischer Wortdeutlichkeit vor.

Die Texte verbanden sich nahtlos mit Musik aus der Epoche vom mittleren Trecento bis ins beginnende Quattrocento – zum Teil aus einem Codex, der exakt zur gleichen Zeit wie der Decamerone zusammengetragen worden war. Diese Musik spielte das fünfköpfige Ensemble The Unicorn unter der Leitung des Blockflötisten Michael Posch überaus stilgerecht. Die Verbindung von Musik und rezitiertem Text gelang ideal und man fühlte sich geradezu als Gast der Rahmenhandlung des Decameron, in der sich während der verheerenden Pest des Jahre 1348 junge Menschen in einem Landgut nahe Florenz treffen und ihre Tage mit Geschichtenerzählen verbringen. Assoziationen zur Corona-Isolation des letzten Jahres stellten sich natürlich ein und waren sicher auch von den Programmverantwortlichen gewollt.

Die fünf ausgewiesenen Spezialisten für Alte Musik harmonierten prächtig und brillierten auf ihrem historischen Renaissance-Instrumentarium – der Ensembleleiter gleich auf fünf verschiedenen Blockflöten. Sie waren die ideale Umrahmung und Ergänzung für den Sprachkünstler Karl Markovics und die von ihm virtuos vorgetragenen Boccaccio-Texte.

Auch der zweite heute zu rezensierende Abend Lust auf Mozart hatte für mich einen unbestrittenen Mittelpunkt – nämlich den Spezialisten für historische Tasteninstrumente Florian Birsak. Doch bevor ich auf ihn eingehe, sei ein Exkurs zum Generalmotto Lust und dem gewählten Logo (siehe oben das erste Foto dieses Beitrags) gestattet. Styriarte-Intendant Mathis Huber erklärte dieses Logo in einem Interview vor Festivalbeginn so:

Wir machen Lust auf das Festival mit einer wunderschönen Erdbeere. Die macht Lust aufs Reinbeißen. Und sie ist so aufgeschnitten, dass sie wie ein Sexualorgan aussieht, oder als solches gelesen werden könnte. Und in dieser Spannung zwischen Sex und Lust, Essen und Trinken, Lust auf Musik und Lust auf Leben läuft dieses Festival, und das soll das Bild zum Ausdruck bringen. Ansonsten muss man schon das Programm aufmachen und sich die einzelnen Projekte ansehen. Und dann bekommt man natürlich große Lust!

Die Solistin des Mozartabends Maria Ladurner hat mit Kolleginnen diesen Hinweis des Intendanten aufgegriffen – daher sei hier das folgende für sich selbst sprechende Foto wiedergegeben:

Im Programmheft des Abends Lust auf Mozart liest man: Maria Ladurner und Florian Birsak haben zwei Liederpaare und eine Dreierfolge zusammengestellt. In jedem Fall geht es um junge Frauen, die gewisse Erfahrungen in der Lust schon hinter sich haben. Und es geht um raffinierte Strategien der Galanterie, an denen die Männer im späten 18. Jahrhundert wahrlich nicht arm waren: beredte Blicke, sanftes Drängen, verliebte Briefe – das ganze Arsenal des galanten Zeitalters.

Die 29-jährige Sopranistin Maria Ladurner steht zweifellos am Beginn einer erfolgversprechenden Karriere. Sie verfügt über eine helle, reizvoll timbrierte Stimme und trägt die sieben ausgewählten Mozart-Lieder charmant-natürlich vor. Allerdings wird Maria Ladurner noch an der Textgestaltung zu arbeiten haben. Derzeit ist sie noch (allzu) sehr auf die richtig sitzende Resonanz der Töne bedacht. Das gelingt ihr auch sehr gut, bei der Textartikulation möge sie sich in ihrer weiteren Entwicklung an der unvergleichlichen Elisabeth Schwarzkopf orientieren. Z.B. ist deren Interpretation des Mozart’schen Zauberers für mich maßstabsetzend – hier dazu der link. So wie beim Decamerone-Abend gab es auch bei Mozart eine sehr gelungene Verschränkung: die Lieder erklangen zwischen den Sätzen der Mozart’schen Klaviersonate in A, KV 331.

Florian Birsak spielte auf einem nachgebauten Hammerklavier aus der Zeit um 1805 meisterhaft. Er spielte bescheiden-introvertiert – da erlebte man keine auf Publikumseffekt ausgerichtete Virtuoseninterpretation, sondern ein fein nuanciertes, dennoch klar akzentuiertes Musizieren. Überzeugend gelangen auch die Übergänge von den Klaviersonatensätzen zu den Liedern. Es war z.B. wunderbar, wie Florian Birsak den Übergang vom Ende des ersten Satzes der Klaviersonate zum vorspiellosen Lied Die Verschweigung mit einer Variation des Eingangsthemas der Klaviersonate elegant-unaufdringlich gestaltete und damit das Lied ideal einbegleitete. Als Partner der Sängerin war er einerseits überaus rücksichtsvoll und andererseits durchaus selbstständig gestaltend – großartig! An dieses Duo Hammerklavier/Stimme schloss sich am Ende des Programms das Klaviertrio in B, KV 502. Hier traten die Geige (Fritz Kircher) und das Violoncello (Ursina Braun) zum Hammerklavier. Auch hier war Florian Birsak das souveräne gestalterische Zentrum. Das Publikum spendete viel Beifall und wurde mit einer Zugabe belohnt; Das eigentlich für Mandoline und Stimme bestimmte Mozart-Lied Komm, liebe Zither wurde in der Bearbeitung für Klaviertrio und Sopran zum stimmungsvollen Abschluss des Abends.

Hermann Becke, 13.7.2021

Aufführungsfotos: styriarte, © Nikola Milatovic