Frankfurt, Konzert: „Strauß, Rózsa, Tschaikowsky“, hr-Sinfonieorchester unter Emmanuel Tjeknavorian

Im aktuellen hr-Auftakt Konzert erlebten die Zuhörer im hr-Sendesaal ein kontrastreiches Programm.

Das Genre der Operette hat es seit Jahrzehnten schwer, eine Plattform zu finden. Seltsam. Denn die großen Werke aus diesem Umfeld begeistern von jeher ein breites Publikum. Hierzu ist auch „Der Zigeunerbaron“ von Johann Strauß zu zählen. Ein Herzensstück, welches der Komponist, sehr zur Verwunderung seiner Zeitgenossen, als „komische Oper“ verstanden sehen wollte.

Gut zwei Jahre investierte Strauß in die Entstehung seines Werkes, eine für ihn äußerst lange Zeitspanne. Am 24. Oktober 1885 fand im Theater an der Wien die erfolgreiche Uraufführung statt.

Die beliebte Ouvertüre fasst alle wesentlichen Themen und Figuren der Oper zusammen. Spritzig, blendend instrumentiert und ein Feuerwerk der Melodien. Eine Steilvorlage für jedes Orchester, ein Publikum in Begeisterung zu versetzen.

Der Geiger Emmanuel Tjeknavorian wandelt seit geraumer Zeit auf den Spuren seines Vaters Loris, der ein bekannter Dirigent ist. Emmanuel Tjeknavorian brennt sehr für das Dirigieren und möchte dies stärker in den Mittelpunkt seines künftigen Wirkens stellen.

Ist dies eine richtige und kluge Entscheidung? Als Geiger hat er bereits viele Menschen begeistert. Und doch, nach diesem berührenden Abend im hr-Sendesaal muss die Antwort lauten: Emmanuel Tjeknavorian muss dirigieren! Unbedingt! Alles andere wäre ein frevelhaftes Versäumnis!

Bereits sein Dirigat der Ouvertüre ließ aufhorchen und begeisterte vollends. Äußerst vollmundig und saftig im Tonfall spielte das hr-Sinfonieorchester auf, wie lange nicht. Das war viel mehr als eine Potpourri-Ouvertüre. Es war ein musikalischer Roman en miniature, dynamisch perfekt ausgelotet und in feiner Agogik angelegt. Rubatoselig, als würde Tjeknavorian jeden Tag Operette dirigieren, brachte er die Musiker des Orchesters zu effektvollem Spiel. Selten gab es so viel lächelnde Gesichter in den Reihen des Orchesters. Und das Publikum feierte die Ausführenden mit erkennbarem Enthusiasmus. Was für ein Auftakt!

„Ben Hur“ und „El Cid“, die großen Hollywood-Monumentalfilme wurden musikalisch maßgeblich von einem Mann geprägt: Miklós Rózsa! Er galt als einer der großen Filmkomponisten seiner Zeit. In seinen knapp neunzig Lebensjahren komponierte er zahlreiche Filmmusiken, die ihm vielfach Preise und Oscar-Nominierungen bescherten.

Ebenso war er in der Konzertmusik sehr aktiv. So schrieb er u.a. Konzerte für Violine, Viola, Cello, Klavier und Orchester. Sein in Frankfurt zu hörendes Violakonzert entstand im Jahr 1979. Kontrapunktik und ungarische Folklorismen prägen seine Kompositionen, die eine erzählerische Kraft bei eingängiger, fassbarer Tonsprache entfalten.

Solist des Abends war der junge englische Geiger Timothy Ridout, der 2016 als erster Brite den ersten Preis im Lionel Tertis International Viola Competition gewann. CD-Einspielungen und Gastspiele, u.a. bei den PROMS in London prägen seinen beachtlichen Karriereverlauf. Ridout spielt derzeit auf einer Bratsche des Brescianer Geigenbauers Pellegrino Micheli (ca.  1565–75), eine Leihgabe der Beare’s International Violin Society.

Rószas Werk fordert Musiker und Publikum stark. Nicht, dass es sperrig wäre, im Gegenteil, dem Komponisten gelang ein vielschichtiges Werk, in dem sich permanent die Musik weiterentwickelt.

Timothy Ridout spielte mit faszinierend sonorer Tonfülle und stupender technischer Sicherheit. Alle horrenden Herausforderungen gelangen vortrefflich. Seine außergewöhnliche Stärke war seine sensitive Musikalität, die den vielen Lyrismen des Werkes zu eindringlichster Wirkung verhalfen. Sehr gut war ebenso sein Farbgespür für die folkloristischen Elemente Rószas.

Emmanuel Tjeknavorian war ein höchst aufmerksamer Begleiter, der dieses komplexe Werk sehr verinnerlicht dem Orchester zu vermitteln wusste. Das Auditorium zeigte sich sehr begeistert für diese Rarität des Konzertsaals und feierte ausgiebig den musikalischen Vortrag. Timothy Ridout bedankte sich mit zwei humorvollen, immens schweren Zugaben, die das Publikum zurecht euphorisierten.

Hauptwerk des außergewöhnlichen Konzertabends war die vielgespielte sechste Sinfonie mit dem Beinamen „Pathétique“ von Peter Tschaikowsky. Wenige Tage vor seinem Tod leitete der russische Meister die Uraufführung im Jahr 1893. Und der düstere, ersterbende Finalsatz weckt tatsächlich Todesahnungen. Tschaikowsky hatte einen sehr persönlichen Bezug zu diesem finalen Werk, bei welchem er an ein Programm dachte, es aber letztlich für sich behielt.

Düster ist der Beginn und das Ende des Werks. Ein dunkler Rahmen ist gesetzt. Der erste Satz ist eine Welt für sich, voller Wehmut, Sturm und Lebenskampf, ehe ein beschwichtigender Choral den Satz tröstlich abschließt.

Volksmusikanklänge prägen den D-Dur Walzer des zweiten Satzes. Aber auch hier gibt es Seufzer und subtile Eintrübungen. Keine heile Welt.

Der dritte Satz setzt hierzu einen deutlichen positiven Kontrapunkt. Im rastlosen Umherirren der Holzbläser und Streicher wird ein triumphaler Marsch vorbereitet. Kraftvolle Blechbläser und prasselnde Beckenschläge geben diesem Satz seine unwiderstehliche Wirkung.

Im finalen Adagio dominieren Klage und Abschied. Seufzer und Schmerz bäumen sich auf bis zu einem finalen Zusammenbruch. Ein leichter Schlag auf das Tamtam mündet in die erlösende Reprise bis zum letzten Atemzug. Stille.

Emmanuel Tjeknavorian setzte mit seiner Interpretation dieser Sinfonie ein markantes Ausrufezeichen für seine dirigentische Begabung. Hier zeigte sich kein Talent, sondern ein fertiger junger Dirigent, der mit einer sehr persönlichen und klug durchgehörten Auslegung der Partitur begeisterte!

Klar war sein Blick in die musikalischen Strukturen. Sein hoch sensibler Klangsinn holte aus den Musikern das Beste heraus und ließ sie über sich hinauswachsen. Es ist lange her, das fabelhafte HR-Sinfonieorchester emotional derart aktiv erlebt zu haben.

(c) hr/Lukas Bec /Emmanuel Tjeknavorian, Artist in Residence.

Tjeknavorian betrachtete Tschaikowskys finalen symphonischen Schwanengesang als Apotheose der Kantabilität. Stets forderte und führte er das Orchester in emotionale Siedepunkte. Das Orchester durfte im großen Tonfall ausmusizieren. Selbst im Auftrumpfen des dritten Satzes gab es keine plakative Lärmerei, sondern klare Struktur und intensive Farben. Rhythmisch war gerade dieser Satz sehr gut durchgearbeitet. Im Lamento des letzten Satzes erreichte das Dirigat von Tjeknavorian eine alles überragende Größe. Solch eine tiefe, ehrliche Empfindung der musikalischen Seele transferiert in den großen Orchesterapparat, löste das Zeitempfinden im hier und jetzt völlig auf. Finale Worte, tief berührend, schmerzend und doch tröstend. Der Schlag auf das Tamtam, oft allzu beiläufig, war hier markant gesetzt. Wie wirkungsvoll! Was bleibt, war das Verlöschen im Klang. Und dann war es still im hr-Sendesaal. Lange still. Als würde die irre Welt da draußen innehalten. Was für ein Moment! Was für ein Konzert!

Das hr-Sinfonieorchester spielte derart beherzt und emotional gelöst auf, wie es leider viel zu selten der Fall ist. Aber wie gut ist dieser Klangkörper, wenn er zur emotionalen Hingabe gefordert ist!

Natürlich hat der Geiger Tjeknavorian die herrliche Streichergruppe besonders gut und klangintensiv vorbereitet. Welche Wonne, sie derart edel und nobel im Klang zu erleben. Alle Bläser waren ausgezeichnet. Besondere Charaktermomente schufen Fagottist Carsten Wilkening, Tomaž Močilnik an der Klarinette und vor allem Doğa Saçılık an der Oboe, die bereits in der „Zigeunerbaron“-Ouvertüre mit endlosem Atem und süßer Kantilene gefiel. Ja und selbst der an den Becken sonst immer so scheue, unkomfortabel wirkende Burkhard Roggenbruck traute sich endlich (!) zu kräftigerem Beckenspiel. Und so erhielt der mitreißende dritte Satz durch seine gewährte Offensive endlich einmal Brillanz im Schlagzeug, die zu oft entbehrt wurde.

Das Publikum folgte gebannt dieser bewegenden Darbietung und spendete lange begeisternden Applaus.

Der Hessische Rundfunk sollte schnell zugreifen und sich Emmanuel Tjeknavorian als ständigen Gast-Dirigenten für ein paar Spielzeiten sichern. Die Musikwelt wird sich noch um ihn als aufstrebenden Dirigenten reißen.

Dirk Schauß, 11. November 2022


Frankfurt: Konzert im hr-Sendesaal, 10. November 2022

Johann Strauß „Der Zigeunerbaron“ Ouvertüre

Miklós Rózsa „Bratschenkonzert op. 37

Peter Tschaikowsky „6. Sinfonie (Pathétique)“ h-moll op. 74

Musikalische Leitung: Emmanuel Tjeknavorian

Solist: Timothy Ridout (Violine)

hr-Sinfonieorchester