Freiberg: „Andrea Chénier“

Premier: 27.04.2019

Große Oper am kleinen Theater

Lieber Opernfreund-Freund,

die Revolutionsoper Andrea Chénier des italienischen Komponisten Umberto Giordano ist seit dem vergangenen Wochenende am Theater Freiberg zu erleben. Dabei beweist das kleine Haus, das es durchaus in der Lage ist, großen Werken eine Bühne zu geben.

1896 fand er Mailänder Scala uraufgeführt, ist Andrea Chénier die einzige Oper des aus dem süditalienischen Foggia stammenden Komponisten Umberto Giordano, die auch heute noch ab und an den Weg auf die Spielpläne deutsche Theater findet. Das Werk erzählt, beginnend am Vorabend der Französischen Revolution auf dem Schloss der Grafen von Coigny, wie die Revolution ihre eigenen Kinder frisst, wie der Dichter Andrea Chénier vom Anhänger der Revolution zum Verfolgten wird. Der Poet, den es tatsächlich gegeben hat, 1789 noch glühender Verfechter ihrer Ideale, wird fünf Jahre später unter der Schreckensherrschaft wegen angeblich kontrarevolutionärer Zeitungsartikel angeklagt, in einem Schauprozess nur wenige Tage vor dem Sturz Robespierres zum Tode verurteilt und noch am gleichen Tag geköpft. Luigi Illica, der für seine intensive Zusammenarbeit mit Puccini bekannt ist und auch die Libretti zu dessen Bohéme, Tosca und Madama Butterfly verfasst hat, hat die historisch verbürgten Begebenheiten um eine Liebesgeschichte ergänzt, in der die Adelige Maddalena de Coigny Cheniér auf einem Fest in ihrem Elternhaus kennenlernt und ihn, nachdem ihre Familie ermordet wurde, 1794 auf den Straßen Paris wieder trifft. Die beiden gestehen sich ihre Liebe. Carlos Gérard, einst Diener im Hause Coigny und in Maddalena verliebt, ist zu einer Schlüsselfigur von La Terreur geworden und befeuert die Anklage gegen Chénier, kann aber die Hinrichtung nicht mehr verhindern, als er nach Maddalenas innigem Bitten (die Arie La mamma morta ist nicht erst seit der Verwendung der Callas-Interpretation im Film Philadelphia weltberühmt) deren aufrichtige Liebe zu dem Dichter erkennt. Maddalena nimmt daraufhin die Identität einer ebenfalls zum Tode verurteilten jungen Frau an und geht gemeinsam mit Andrea Chénier zur Guillotine.

Judica Semler habe ich als genau am Skript erzählende Regisseurin kennen gelernt. Umso erstaunlicher – und erfreulicher – fand ich die Ansätze ihrer Lesart im ersten Akt, in dem sie das Gebahren des Adels, der die Realität bis zum letzten Moment nicht erkennen mag, sondern die Welt lieber durch rosarote Brillen betrachtet, karikiert. Pracht und Prunk entstehen tatsächlich auf dem Rücken der Arbeiter und Bauern, die hinreißenden überzeichneten Kostüme von Annabel von Berlichingen sind da noch ein echter Hingucker. Auch die Idee, zwischen den Akten Texte des Dichters einzublenden und sie von Johann-Christof Laubisch vorlesen zu lassen, ist gut, wenn auch recht ausufernd umgesetzt, beleuchten sie doch die Hintergründe des Geschehens und ermöglichen dem Publikum einen guten Einblick in das Schaffen des hierzulande nur als Opernfigur bekannten Chénier. Doch leider hält Semler diesen augenzwinkernden und originellen Ansatz nicht konsequent durch, verfällt ab dem zweiten Bild erneut ins bloße Erzählen; zusätzlich verengen überflüssig erscheinende Aufbauten die ohnehin kleine Freiberger Bühne, „übliche“ Revolutionskostüme mit Dreispitz und allgegenwärtiger drapeau tricolore treten an Stelle des Karikaturesken – und das ist ein bisschen schade. Die Veränderung von der Revolutionsidee zur Schreckensherrschaft versinnbildlicht bis zum Schluss einzig eine Art kindlicher Marianne, deren anfangs blütenweißen Kleidchen am Ende blutbesudelt ist.

Das engagierte Freiberger Ensemble legt sich ins Zeug, um diese Geschichte musikalisch auf die Bühne zu bringen. Giordano hat hierzu ein paar Höllenpartien ersonnen, musikalischer Bombast und Klangrausch beschreiben die Orchestrierung der melodienreichen Partitur am besten. Im Graben spornt GMD Raoul Grüneis die Mittelsächsische Philharmonie an und legt das ganze Feuer von Giordanos Komposition frei, erweist sich aber bei den höchstschwierigen Arien als sensibler Begleiter der Sängerinnen und Sänger. In der Titelrolle trumpft Frank Unger mit tenoraler Wucht auf und bewältigt die Anforderungen der Partie, die sich fast ausschließlich in forte im Hohen Register bewegt, genau da. Mit den zarteren Passagen hat der Tenor, der Ende vergangener Spielzeit vom Ensemble in Annaberg-Buchholz nach Freiberg gewechselt ist, das eine oder andere Problemchen, begeistert aber mit engagiertem Spiel. Andrii Chakov hingegen ist ein völlig tadelloser Carlo Gérard, vereint in seiner Interpretation des Fieslings den jugendlichen Eifer seines frischen Baritons mit ausdrucksstarkem Volumen und wird so zum idealen Interpreten des idealistischen Revolutionärs. Alice Hoffmann ist eine präsente und miteißend spielende Contessa (diese Rolle war mir bisher in anderen Aufführungen kaum aufgefallen) und gehört für mich ebenso zu den Überraschungen des Abends wie der junge Jakub Kunath, der als Mathieu Eindruck macht und seine Figur bühnenpräsent und mit farbenreichem Bariton gestaltet. Elias Han ist ebenso eindrucksvoll als Fléville wie als Schmidt, während Johannes Pietzonka den Spitzel Incredibile mit einer Mischung aus Verschlagenheit und Intriganz zum Leben erweckt – und dazu noch vorzüglich singt. Sergio Raonic Lukovic gefällt mir in der kurzen Rolle von Chéniers Freund Roucher sehr gut, während die präsente und brillant darstellende Dimitra Kalaitzi-Tilikidou ihrer Bersi leider ein wenig Schärfe in der Höhe mitgibt.

Ensemblemitglied Leonora Weiß-del Rio debütiert als Maddalena de Coigny und präsentiert – hochschwanger und in ihrer letzten Vorstellung vor Mutterschutz und Elternzeit – eine überzeugende Interpretation, bewegt in der bereits erwähnten Arie über alle Maßen und zieht auch im großen Schlussduett noch einmal alle Register. Das Freiberger Ensemble wird hoffentlich nicht allzu lange auf diese Künstlerin verzichten müssen. Der Chor, von Peter Kubisch hervorragend einstudiert, präsentiert sich solide und fein aufeinander abgestimmt, die diversen, beherzt und überzeugend aufspielenden Chorsolisten komplettieren die umfangreiche Besetzungsliste. Das Publikum im voll besetzten Haus ist begeistert und ich hege die Hoffnung, dass sich die Qualität dieser Komposition und der künstlerischen Umsetzung am Mittelsächsischen Theater rasch herumspricht. Ich zumindest habe Ihnen, lieber Opernfreund-Freund, schon einmal davon erzählt…

Ihr Jochen Rüth 29.04.2019

Die Fotos stammen von Jörg Metzner