Sofia: „Yana’s Nine Brothers“

Premiere 22. März 2018

Eine interessante Ausgrabung

Der bulgarische Komponist Ljubomir Panajotow Pipkov schuf u.a. neben vier Sinfonien und verschiedenen Solo- und Klavierstücken sowie Filmmusiken auch eine Oper, „Yana’s Nine Brothers“, die heute als ein Wendepunkt in der bulgarischen klassischen Musik gesehen wird. Auf dem reichen Schatz der bulgarischen Volksmusik aufbauend wollte er einen neuen bulgarischen Musikstil kreieren, der von drei wesentlichen Faktoren bestimmt sein sollte, dem Erbe der klassischen Musik der Welt; dem reichen Erbe der nationalen Lieder, Gesänge und Rhythmen, sowie dem historischen Moment, der den Inhalt des Kunstwerks mitbestimmt. Und da befand sich Pipkov zur Zeit seiner Komposition der „Yana“ in einer ganz dramatischen, ja nahezu traumatischen Situation. Er schrieb das Stück 1929, in den blutigen Nachwirren des Staatsstreichs des Militärs vom Juni 1923 unter General Ivan Valkov. Er führte zu einer Ersetzung des später ermordeten Staatschefs Aleksandar Stamboliyski durch eine neue Regierung unter Aleksandar Tsankov. Hinzu kam das kommunistische Attentat auf die Regierung durch einen Anschlag auf die Sveta Nedelja-Kathedrale im April 1925, bei dem weit mehr als 100 Personen getötet wurden.

In jener Zeit war Pipkov Schüler für sechs Jahre von Paul Dukas in Paris. Dieser kannte unter anderen noch Franz Liszt, César Franck und Richard Wagner und stand mit Camille Saint-Saens in Kontakt… Debussy, der bekannterweise Wagner verehrte, war unter seinen Freunden. Der politische Atem jener Zeit ist in jedem Takt der großartigen Musik Pipkovs, dem von ihm mit Hilfe von Nikola Veselinov geschriebenen Libretto und der Dramaturgie des Stückes zu verspüren. Es ist eine große bulgarische Oper, ja vielleicht gar eine bulgarische Nationaloper, die historischen Stoff mit – leider – großer Aktualität verbindet. Sie erlebte 1937 ihre Uraufführung.

Der unermüdliche und visionäre Generaldirektor der National Oper und Ballett Sofia, Acad. Plamen Kartaloff, der u.a. in den vergangenen sieben Jahren sechs große Wagner-Werke auf die Sofioter Bühne stellte, darunter den ganzen „Ring des Nibelungen“, kannte Pipkov selbst noch gut und inszenierte das Stück nach 30 Jahren nun zum zweiten Mal. Es wurde eine hochinteressante „Ausgrabung“, denn anderswo ist die „Yana“ wohl (noch) nicht zu erleben. Das Stück spielt von der Bulgarin Yana, die neun Brüder hat, die alle in den unmenschlichen Minen des Rila-Berges schuften. Unter ihnen ist der hässliche Georgi, der dem schönen und künstlerisch begabten jüngeren und von Mutter wie Yana weit mehr geliebten Bruder Angel aus Neid das Leben schwer macht, auch auf sein höheres Alter pochend. Es gleicht der Kain- und Abel-Situation des 1. Buches Mose. Denn Georgi hackt dem Holzschnitzer Angel schließlich beide Hände ab, womit dieser als armer Bettler sterben muss. Als die rote Pest aus Bosnien kommt, macht sich Georgi diese über das Mitspiel einer Zigeunerin zunutze, um auch seine übrigen sieben Brüder umzubringen. Am Schluss sterben seine erblindete Mutter und er selbst. Nur Yana bleibt als Geläuterte zurück, im Angesicht der durch die anrückenden osmanischen Besatzer in Brand gesetzten bulgarischen Dörfer – ein Ende wie Wagners „Götterdämmerung“ und eine Oper mit wahrhaft nationalen und visionären Dimensionen.

Kartaloff schafft dazu mit seinem Bühnenbildner Sven Jonke und der einfallsreichen Kostümbildnerin Stanka Vauda sowie mit einer ebenso stimmungsvollen wie beeindruckenden Beleuchtung des künstlerischen Lichtdesigners Andrej Hajdinjak eine optische Ästhetik, die auf einen klaren und eingängigen Symbolismus setzt. Im Zentrum seiner Dramaturgie steht der Baum, der in der bulgarischen Folklore als „mytho-poetisches Bild“ wahrgenommen wird, welches die Einheit des Universums und der menschlichen Gesellschaft symbolisiert. Für den Regisseur ist der Baum auf seiner „Yana“-Bühne ein Symbol für das Leben, den Menschen, das Zu Hause, die Familie, das Schicksal und das Volk. Er spreizt seine Wurzeln breit auf der Erde aus, die als abgeschnittenes Rund der Weltkugel dargestellt wird, wie weiland in der Produktion des Bayreuther „Ring“ durch Alfred Kirchner und Rosalie.

Damit erinnert die hier gezeigte direkte Verbindung von Baum und Erde auch an die lateinamerikanische Pachamama, die in einigen Andenvölkern als Mutter der Erde und Verbinderin zwischen Ober- und Unterwelt verehrt wird. Natürlich ist da auch die Erda von Richard Wagner nicht weit… An diesem Baum, es sind derer gar zwei, spiegelt sich der Verfall des Hauses Yanas sowie ihrer Mutter und Brüder und damit symbolisch das Schicksal des ganzen bulgarischen Volkes angesichts der unmittelbar bevorstehenden osmanischen Besatzung wider. Am Schluss verdorrt der Baum – eine Assoziation mit Wagners Weltesche drängt sich geradezu auf…

Plamen Kartaloff ist die Umsetzung der dramaturgischen und musikalischen Intentionen des Komponisten auf das Beste gelungen, auch und gerade durch eine exzellente Bild- und Personeneregie. Der von Violeta Dimitrova bestens einstudierte, sehr transparent und kräftig singende sowie von Riolina Topalova auch lebhaft choreografierte Chor der Sofia Oper und Ballett spielt bei Kartaloff eine Rolle wie in der griechischen Antike. Auch das hätte Wagner wohl gefallen…

Das Stück hat eine unglaublich umfangreiche Sängerbesetzung von fast 30 Solisten, also fast so viele wie der viertägige „Ring des Nibelungen“! Kartaloff konnte wieder auf bewährte, ausschließlich bulgarische Ensemble-Mitglieder setzen. In den Hauptrollen brillierten Gabriela Georgieva mit einem zeitweise dramatisch artikulierten klangvollen Sopran als Yana, Gergana Rusekova als Zigeunerin mit einem hochdramatischen farbigen Sopran, der schon die Walküre erahnen lässt, Petar Buchkov mit einem ausdrucksstarken Bassbariton als Georgi, Kostadin Andreev mit einem heldischen, höhensicheren und zu großer Variabilität fähigen Tenor als Angel, sowie Ivanka Ninova mit einem guten Mezzosopran als Mutter. Alle spielten ihre Rollen mit großer Emphase, Andreev auch mit besonders beeindruckender Emotionalität. Im Gedächtnis blieb vor allem sein hinreißend gesungener Monolog in der 6. Szene des 3. Akts, kurz vor seinem Tod.

Bis auf ganz wenige Ausnahmen waren alle Nebenrollen ebenfalls gut besetzt. Darunter ragten an stimmlicher Qualität besonders Nikolay Petrov als Onkel Dimitar, Daniel Ostretsov als Erster Holzschnitzer, Tsvetan Tsvetkov als Zweiter Holzschnitzer sowie Atanas Mladenov als Dritter Holzschnitzer heraus. Auch der Alte Gherdan von Stefan Vladimirov soll nicht unerwähnt bleiben. Angel Hristov, immerhin der Hagen und Hunding des Sofioter „Ring“, hatte eine vergleichsweise kleine Rolle als König Yassen, die er natürlich bestens meisterte.

Der junge Zhorzh Dimitrov dirigierte das Orchester der Sofia Oper und Ballett mit sicherer Hand durch eine Partitur, die für alle Beteiligten absolutes Neuland darstellt. Im 1. und 2. Akt herrscht oft noch ein Sprechgesang vor, der von der Musik eher kommentiert wird. Sie spielt hier noch keine tonangebende Rolle, im wahrsten Sinne des Wortes. Das wird dann anders im viel dramatischeren 3. und 4. Akt, in denen eine weitaus stärkere musikalische Verdichtung und größere dramatische Intensität stattfindet. Dabei gibt es aber immer auch kontemplative Phasen. In diesen beiden Akten entwickelt die Musik Pipkovs ein facettenreiches Farbenspektrum und starken Ausdruck. Eine gewisse Nähe zu Wagner ist hier auch musikalisch unverkennbar. Aber es ist dennoch in jedem Takt der neue bulgarische Musikstil, den der Komponist entwickeln wollte und der damit eine Gezeitenwende in der bulgarischen Musikentwicklung darstellt.

Das Finale hat schließlich große emotionale und dramatische Fallhöhe. Das Premierenpublikum von Sofia wurde an diesem Abend Zeuge eines bedeutenden und zum Nachdenken anregenden Opernabends, der übrigens auch aus Anlass der Eröffnung des International Forum Meetings von Opera Europa stattfand. Denn was hier gezeigt wurde, ist leider nicht allzu weit von dem entfernt, was die Welt derzeit erlebt… Heftiger Applaus mit standing ovations für die Protagonisten. Die Sofia Oper und Ballett hat damit einen bemerkenswerten Beitrag zur Bulgarischen EU-Ratspräsidentschaft im 1. Halbjahr 2018 geleistet.

Fotos: Svetoslav Nikolov/Klaus Billand

Klaus Billand, 30.3.2018