Dijon: „Curlew River“

26.4.2016

Gelungene Inszenierung einer selten gespielten „Kirchenparabel“ von Benjamin Britten

Für jede neue Spielzeit lädt die Opéra de Dijon zu einer „großen Reise“ ein. Im Wagnerjahr ging es nach Deutschland mit einem originellen „Ring“, letztes Jahr ging es nach Prag mit Bedrich Smetana, Antonin Dvorak, Pavel Haas, Hans Krasa, Leos Janacek und Bohuslav Martinu. Dazu auch noch andere Komponisten, denen man selten oder nie in einem Opernhaus begegnet: Jan Ladislav Dussek, Jakub Jan Ryba, Erwin Schulhoff, Gideon Klein und Peter Eben. Der junge, dynamische und fantasievolle Direktor der Opéra de Dijon, Laurent Joyeux, hat dieses Jahr wieder eine höchst originelle Spielzeit zusammengestellt unter dem Motto „der Orient-Express“. Die Reise fängt in London an und folgt den Spuren des berühmten Zuges über Wien, Venedig, Sarajewo, Budapest, Bukarest bis hin nach Istanbul und an die Krim. Auf unsere Frage, was „Curlew River“ mit dem Orient-Express zu tun hat, meint Laurent Joyeux, dass dies schon ein Link zur nächsten Spielzeit ist mit dem Thema „Träume“.

„Curlew River“ („Der Fluss der Möwen“) ist ursprünglich ein japanisches Nô-Stück, „Sumida-gawa“ von Juro Motomasa, das Benjamin Britten und sein Librettist William Plomer zu einem christlichen „Lehrstück“ umgearbeitet haben. So fand die Uraufführung der „Parable for Church Performance“ 1964 in der Oxford Church in Suffolk statt, als halb-szenisches Oratorium mit vier Solisten und acht Choristen. Dazu sieben Musiker, die man nicht unbedingt in einer Kirche erwarten würde: Horn, Harfe, Bratsche, Flöte, Kontrabass, Schlagzeug und Orgel. Sie geben dem Stück ein „japanisches Ambiente“, und wie im alten Nô Theater werden alle Rollen von Männern gesungen. Der Abend fängt an mit einem Chor von Mönchen, die beten: „führe uns nicht in Versuchung, sodass unsere Körper und unsere Seele rein bleiben“. Darauf folgt eine Parabel über einen unschuldigen Knaben: ein Fährmann erzählt den Passagieren seiner Barke, dass er vor genau einem Jahr einen Mann über den Fluss gesetzt hat mit einem völlig erschöpften zwölfjährigen Jungen, der am anderen Ufer liegen blieb. Sterbend bat das Kind, dass man einen Baum auf sein Grab pflanze. Eine Frau auf dem Kahn, die von allen als verrückt erklärt wurde, erkennt in der Geschichte ihren Sohn (der ihr geraubt wurde), läuft zur Grabstätte (die inzwischen eine Pilgerstätte geworden ist) und bricht dort zusammen. Da erklingt aus dem Himmel die Stimme ihres Sohnes (mit einem Knabenchor), der sich freut, dass sie bald im Paradies wiedervereint werden. Das Thema des unschuldigen Jungen, der durch die Gesellschaft misshandelt und getötet wird, zieht sich als ein Leitmotiv durch das ganze Werk Benjamin Brittens. Doch im Gegensatz zu seinen Opern, wird „Curlew River“ nur sehr selten aufgeführt und wenn, dann meistens nur von Gesangs-Akademien (so wie die Produktion aus Aix-en-Provence die seit 1998 durch die Welt tourt). In Dijon sehen wir die Kirchenparabel nun zum ersten Mal als „Oper“ inszeniert. Der Regisseur Guillaume Vincent schaffte es, das Werk stringent zu bebildern und wurde darin kongenial unterstützt durch seinen Bühnenbildner Pierre-Guilhem Coste. Dieser überdachte den Orchestergraben und verwandelte ihn in ein Flussbett (mit einem Loch für die Musiker), auf dem die eigentliche Handlung stattfindet. Die Bühne (hinter einem Tüll) mutiert so zum „Seelenraum“, in dem sich das abspielt, was durch den Fährmann besungen wird. Wir sehen den kleinen Jungen sterben, dann durch Schnee bedeckt werden bis (echte!) Geier sich auf ihn stürzen und eine (echte) Eule seinen Todesschlaf bewacht. Im letzten Bild löst sich alles auf, fahren Tüll und Wolken hoch, und läuft die Mutter auf die Bühne, um auf dem Grab ihres Sohnes niederzusinken – so eindrucksvoll haben wir „Curlew River“ noch nie gesehen!

Es war deutlich zu spüren, dass alle Beteiligten mit Leib und Seele bei der Sache waren. Dann ist es auch nicht mehr wichtig, dass wir nicht alle Kostüme von Fanny Brouste verstanden haben und dass uns das Video mit Wolken und Wellen von Kélig Le Bars überflüssig erschien (warum sieht man jetzt in quasi jeder Operninszenierung ein Video?). Benjamin Bevan sang einen kräftigen Fährmann, Johnny Herford den Reisenden und Vincent Pavesi den Abt. James Oxley meisterte die schwierige Partie der „Verrückten“ (Mutter), die Britten für die besondere Stimme seines Lebensgefährten Peter Pears komponiert hat. So wie man es auf den Aufnahmen hören kann, sang Pears mit Bruststimme, im Falsett und die komplizierten Übergänge in der „voix mixte“, die vielen heutigen Tenören viele Schwierigkeiten bereitet. Davon war bei James Oxley keine Spur. Doch in der Rollengestaltung spürte man leider eine – vielleicht durch den Regisseur beabsichtigte – Distanz zur Figur. Das liegt hauptsächlich an der starken Eigenaussage des Kostüms, ein auffälliges Konzertkleid mit Schleppe und Pailletten der Sängerin Madonna, die der Identifikation mit einer Mutter, die seit einem Jahr auf allen Wegen und Stegen ihr Kind sucht, schwer im Wege steht. Schade – in diesem Falle wäre weniger wirklich mehr gewesen. Doch was hier vielleicht an Emotion verloren ging, wurde durch den exzellenten Männerchor der Maîtrise de Dijon (Einstudierung Anass Ismat) wieder ausgeglichen. Die sieben Musiker spielten engagiert, aber leider nicht immer lupenrein, unter dem schwungvollen Dirigat von Nicolas Chesnau. Das Premièrenpublikum spendete ihnen einen lang anhaltenden Applaus. Auffällig wie viele Jugendliche im Saal waren, denn das Jugendabo kostet in Dijon nur 25 Euro für fünf Opern. Zusätzlich gibt es noch an den „Jugendabenden“ Drinks mit den Regisseuren und Dirigenten, die im Abo inbegriffen sind – wirklich „unschlagbar“! Und das in einer Spielzeit, in der 20% des Etats der Oper recht kurzfristig gekürzt wurden und mehrere Produktionen abgesagt werden mussten. Wir hoffen, dass dies nicht noch einmal passiert, denn die nächste Spielzeit klingt wieder sehr spannend: Es wird es nicht nur die erste „Zauberflöte“ auf Deutsch geben (sie wurde seit 1828 nur vierzehn Mal in Dijon gespielt – immer auf Französisch) sondern auch einige Raritäten wie der „Nabucco“ von Michelangelo Falvetti (aus 1683) und ganz neue Stücke, die durch Dijon in Auftrag gegeben wurden. Nach „Little Nemo“ von David Chaillou folgt „Kalîla wa Dimma“, eine Oper des palästinensischen Komponisten Moneim Adwan, die zugleich auf Arabisch und Französisch gesungen werden wird (u.a. durch das Festival in Aix-en-Provence koproduziert). Man kann Dijon nur immer wieder zu seinen interessanten und sehr originellen Spielplänen gratulieren!

Bilder (c) Gilles Abegg / Opéra de Dijon

Waldemar Kamer 27.4.2016

Dank an unseren Kooperationspartner Merker-online