Saarbrücken: „Werther“

Besuchte Vorstellung: 11.05.2014, (Premiere am 22.02.2014)

Schonungslos aufgedeckte Charaktere auf fast leerer Bühne

Werther ist Massenets beliebteste Oper; nach der Fertigstellung blieb sie fünf Jahre lang liegen, da in Paris gerade das zuständige Opernhaus abgebrannt war. Aber Massenet und seine Freunde erinnerten sich an die freundliche Aufnahme seiner Manon in Wien und brachten Werther dort 1892 in deutscher Sprache zur Uraufführung. Inspiriert wurde Massenet zu dieser Oper, die er für seine beste hielt, auf der Rückfahrt von den Bayreuther Festspielen bei einem Besuch in Wetzlar, dem Ort der Handlung. Allein diese Tatsache sagt über den kulturhistorischen Stellenwert des Werks viel aus. Die Oper Werther, die sich in letzter Zeit immer größerer Beliebtheit erfreut, hat man in vielen opulenten Bebilderungen gesehen. Darauf verzichtet die nun vorgelegte Inszenierung am Saarländischen Staatstheater und fokussiert sie auf das Innenleben der drei Hauptfiguren.

Werther II und Werther I (Mickael Spadaccini) bei Familienidylle

120 Jahre liegen zwischen Goethes Dichtung und Massenets Komposition, weitere 120 Jahre verstrichen bis zur Jetztzeit. Die niederländische Regisseurin Jetske Mijnssen verzeitet die Oper in die Mitte, also die Entstehungszeit der Musik, was sich vor allem an den sehr genauen kalten, prüden Kostümen des Ausstatters Ben Baur sowie an der spärlichen Möblierung seines kahlen Bühnenraums festmachen lässt, in welchem die ersten drei Akte ablaufen. Von einem Hof am Hause des Amtmanns oder einem Platz vor der Kirche oder gar Bierschwaden in einem Wetzlarer Biergarten ist nicht die Rede, sondern das Geschehen um die drei Hauptpersonen ist in den bedrückend und trostlos schmucklosen Innenraum verlegt. Überflüssige Verzierungen haben Dramaturgie und Regie auch aus dem zweiten Akt gestrichen: Brühlmann und Käthchen kommen nicht vor. Zwischen den kahlen Wänden, die gegen Ende auch noch eingeengt werden, wird das Unentrinnbare in den Beziehungen der Dreierkonstellation verdeutlicht: keiner kann aus seiner Haut. Das Ergebnis dieses Unentrinnbaren wird vorab in einem kurzen Bild vor der Ouvertüre gezeigt: da steht Werther im Schneefall unter zwei großen Friedhofsglocken neben einem ausgehobenen Grab.

Hiroshi Matsui (Amtmann); Vadim Volkov (Johann); Sophie; János Ocsovai (Schmidt); Kinder

Mit diesem Bild wird eine zweite Verklammerung zwischen Anfang und Ende des Stücks geschaffen. Die erste ist im Werk selbst angelegt. Das einzig Komische am Geschehen ist die Tatsache, dass der Amtmann mitten im Sommer zu Beginn des ersten Akts Weihnachtslieder übt. Dass genau diese Lieder am Ende hinter Werthers Sterbeszene, die gleichzeitig die letzte Liebesszene zwischen ihm und Charlotte ist, aus dem Bühnenhintergrund wiedererklingen, gemahnt an das halbe verflossene Jahr immer problematischer werdender Beziehungen, bei denen auch der sonst so korrekte und biedere Albert durch das kalte Aushändigen der Pistolen mithilft, die Handlung zur letzten Konsequenz zu treiben. Um die Hauptcharaktere der Oper im ausgehenden 19. Jhdt. noch intensiver beleuchten zu können, doppelt die Regisseurin Charlotte und Werther mit Schauspielern. Das ist zwar heutzutage eine fast zu viel benutzte Regiezutat, um Personen in der Innen- und Außensicht, als alter ego oder in der Vor- und Rückschau zu zeigen, aber hier wird sie dazu benutzt, um die doppelten gesellschaftlichen Funktionen des Paars zu zeichnen. Daher braucht auch Albert nicht gedoppelt zu werden; denn er ist einfach nur er, der sich aufgrund der Vorgeschichte eine attraktive Frau an seine Seite stellen konnte, mit der er aber außer Repräsentation kaum etwas anzufangen weiß; vielmehr führt er mit Charlotte ein sprach- und gefühlloses Leben, merkt aber immerhin, dass sein Frau nicht glücklich ist.

Charlotte I, Charlotte II; James Bobby (Albert)

Ganz anders die beiden Facetten in Charlottes Leben: schwärmerische Liebe, auch sexuelle Sehnsucht nach dem attraktiven Werther einerseits, klaglose Pflichterfüllung andererseits. Das kann mit zwei gleichzeitig auf der Bühne vorhandenen Personen besser verdeutlicht werden, wobei die eine das ausdrückt (singt), was gerade im Libretto vorgeschrieben ist, und die andere stumm die andere Seite ausdrückt. Bei Werther ist das ähnlich, wenn auch nicht so ausgeprägt. Seine Rolle des braven Hausfreunds ist nicht in dem Maße im Libretto angelegt wie seine exaltierte schwärmerische und zum Schluss tödliche Liebe zu Charlotte. Da es auf der Bühne an Requisiten kaum mehr zu sehen gibt als einen Esstisch, einen Teetisch und einen Spiegel, wird des Zuschauers Aufmerksamkeit unausweichlich auf das Beziehungsdreieck konzentriert, das die Regie meisterhaft verdeutlicht. Die „Position“ Amtmann ist noch mehr marginalisiert als sonst. Zur „Auflockerung“ der streng wirkenden Inszenierung hat die Regie Schmidt und Johann als dunkel und diabolisch wirkende Clownsfiguren ausstaffieren lassen. Die Tatsache, dass diese beiden (anstelle des Amtmanns) die kurzen Worte am Ende des ersten Akts singen: „Charlotte, Albert est de retour!“ (Lotte, Lotte, Albert ist zurück) verleiht diesen beiden eigenartigen Figuren das Wort beim ersten bedeutenden Handlungsumschwung der Oper und wertet somit ihre sonst eher komischen Rollen im Sinne des düsteren Stücks auf. Werther stirbt am Schluss der Oper neben seinem offenen Grab stehend; Statisten tragen vom Amtmann und Albert angeführt den Sarg herbei; Charlotte bleibt in dieser Schlussszene von Werther weit entfernt.

Charlotte; James Bobby (Albert); Sophie

Die Werther-Partitur ist melodisch und harmonisch ein Meisterstück der damaligen Epoche, von dem sich auch Puccini reichlich beeinflussen lassen hat. Und etwas in diesem Sinne interpretierte sie Ulrich Cornelius Maier, Solorepetitor am Staatstheater, der an diesem Abend das Zweitdirigat innehatte, aber zuvor schon für die musikalische Einstudierung verantwortlich gezeichnet hatte. Das tadellos aufspielende Saarländische Staatsorchester spielte die farbenprächtige Musik wie aus einem Guss; die Dynamik wurde weit ausdifferenziert, wobei die Sänger nicht zugedeckt wurden. Von fein gewobener Transparenz bis zur hochfahrenden schwärmerischen Emotion wurde das Dirigat den vielen Facetten der Partitur gerecht.

Charlotte

Zwar musste das Staatstheater die Erkrankung und Verhinderung beider Sängerinnen der Charlotte verkünden. Aber Glück im Unglück: vom nicht weit entfernten Nationaltheater in Mannheim konnte kurzfristig Anne-Theresa Møller als Gast einspringen, die diese Rolle in der dortigen Produktion singt. Wenn man einmal von ihrer fast vollständigen Textunverständlichkeit absieht (man könnte den Werther ja auch auf Italienisch bringen, und dann wären alle diesbezüglichen Probleme weitestgehend beseitigt – die Gesangslinien sind voller Italianità und nicht streng auf die französische Prosodie gesetzt), hat sie stimmlich und darstellerisch die Rolle bestens ausgestaltet. Von nobler Bühnenerscheinung (bestens stand ihr das ganz hochgeschlossene schwarze Kleid) begeisterte sie über den ganzen Stimmumfang ihres warmen, farbenreichen Soprans. Mickael Spadaccini als Werther war ihr ein ebenbürtiger Partner, der naturgemäß mit der Aussprache des Französischen gar keine Probleme hatte. Er brachte eine enorme tenorale Leuchtkraft auf die Bühne und wirkte unbedingt glaubwürdig in der Rolle des unglücklichen Liebhabers. Das Staatstheater kann sich ob dieses italienischen Tenors glücklich preisen. Wenn er die zuweilen auftretenden leichten Eintrübungen beim Forcieren noch beseitigen könnte, würden sich auch größere Häuser um ihn reißen. Die erdverbundene Rolle des Albert sang James Bobby mit kraftvollem kultiviertem und gut verständlichem Bariton; die ungerührte Kälte dieses Charakters brachte er gut rüber. Mit Hiroshi Matsuis mächtigem Bass war auch der Amtmann gut besetzt, und Elizabeth Wiles‘ sauber geführter, silbriger Sopran passte gut zu der Mädchenrolle der Sophie, die in dieser Inszenierung ein bisschen reifer ausgestattet war. Wie die Orgelpfeifen rührend abgestimmt waren die sechs Kinder als kleiner Kinderchor der Geschwister und sangen ihn klar und frisch: Amélie Clemens, Lilli Eck, Hannah Schnepp, Liliane Kriewald Aaron Zachow und Wendelin Clemens. Der Tenor János Ocsovai im hohen Charakterfach als Schmidt und Vadim Volkov vom Opernchor als Johann rundeten das Ensemble ab.

Der Abend war schlecht besucht; verloren hatten auf jeden Fall alle die, die „vielleicht“ hätten kommen wollen, aber zu Hause geblieben sind. Der Saal spendete nach Ende der Vorstellung allen Beteiligten sehr herzlichen Beifall. Weitere Aufführungen dieser unbedingt sehens- und hörenswerten Produktion nur noch am Sa 17.05. Sa 31.05.2014

Manfred Langer, 13.05.2014

Fotos: stage picture GmbH, Björn Hickmann (Die Fotos zeigen Charlotte und Sophie jeweils in der abweichenden Premierenbesetzung)