London: „Die Walküre“, Richard Wagner

Wer hat Angst vor Erda? Das Publikum des Royal Ballet and Opera (ehemals Royal Opera House) hoffentlich nicht. Die Mutter der Erde steht dem Londoner Publikum selbstverständlich unbekleidet gegenüber, bevor aus dem Graben überhaupt ein Ton kommt. Barrie Kosky, Schmiedemeister des hiesigen Rings des Nibelungen, beweist: Kontinuität kann er, leider zum Preis einer konzeptionellen Weiterentwicklung. Die Inszenierung frustriert und erfreut gleichermaßen, ist die Besetzung zwar nicht fehlerlos und dennoch dem Konzept vollends gewachsen, und Antonio Pappano heimst für das Orchester des Hauses viel Jubel ein.

Der erste Akt entfaltet sich zumeist nach bekannter Manier: treffen sich zwei psychisch labile Geschwister in der Hundingshütte. Der Hausherr, ein herrisch herumschnipsender Dorfpolizist, wirft mit Tischen und verteilt wutentbrannte Ohrfeigen. Da erweist sich Erda während der „Winterstürme“-Passage als bessere Gesellschaft: die alte Dame überreicht den (ineinander) verliebten Zwillingen einen Korb voll Blumen als Symbol für Lenz und erwachende Liebe, in deren Pracht die beiden durchaus charmant herumtollen. Am Ende heben sich die Wände der tristen Hundinghütte symbolisch für die Entscheidung der beiden zur gemeinsamen Freiheit. Dabei erfreuen sich die dramatis personae insgesamt hinreißender Umsetzung durch die gewählte Besetzung, gerade die Zwillinge sind ein konzeptioneller Erfolg. In Sieglindes aufgelöstem Zustand infolge des hunding’schen Wutanfalls hilft der mindestens ebenso schreckhafte Gast mit miesen Tischmanieren wie selbstverständlich, die Geschirrtrümmer aufzuräumen. Sieglindes Blick, als sie seine Hilfe bemerkt, besiegelt eine meisterlich konzipierte und gespielte Darstellung, die offenbart, wie sehr die Zwillinge beide gewohnt sind, bar jeder Gnade die Wut der Anderen auszubaden und sich in dieser geteilten Wunde zuerst als Menschen begegnen.

© Monika Rittershaus

In diesem Gestirn leuchtet stimmlich allen voran Natalya Romaniw als Sieglinde, die ein fantastisches Rollendebüt singt voll schlankem Metall. Leise äußert diese Stimme eine Art dramatisches Versprechen ihrer Zukunft und begeistert bereits im Ist-Zustand, wie sie hier beides stemmt: wohlkontrollierte, mächtige Spitzentöne, die Piani gleichzeitig sicher im Griff und ein wunderbar leichtgängig-ebenmäßiges klangliches Gleiten durch die Register. „Siegmund – so nenn ich dich!“, das macht Gänsehaut. 

Stanislas de Barbeyrac, die andere Hälfte des inzestuösen Gespanns, ist für die Modulierung der Stimme zu weicheren Tönen geschaffen, zu „nun weißt du, fragende Frau…“, dem Klang hohler Verzweiflung. Er spielt – szenisch so erstklassig wie seine Schwester – einen verschreckten, traumatisierten jungen Mann, der sich unterm Tisch versteckt wie einer, der Schläge erwartet; auch im Stimmklang lauert etwas im tiefen Inneren Verletztes. Nur das obere Register will nicht so kräftig und strahlend, wie die Rolle das will; auch die kleinen Wörter des Textes (deutsche Prädispositionen und anderes Teufelswerk) werden manchmal verschluckt. Immerhin: de Barbeyrac versucht sich nicht lauter, als er kann, und ausgerechnet seine allerletzte Szene sitzt. Soloman Howards Hunding agiert unterdessen ganz ohne Bassgebell. Ein sinistres „Du labtest ihn?“ aus dem man – unheimlicherweise – keine erwünschte Antwort ablesen kann, eröffnet passend die Drohwolke dieses Charakters.

Zu Blech und wilden Streichern flitzt im zweiten Akt die tituläre Walküre Brünnhilde mit ausgebreiteten Armen zwischen fahl leuchtenden Straßenlaternen wie Kinder, die Flugzeuge spielen. Ein langsam heranrollender Oldtimer (das Publikum lacht gehörig) zerstört jedoch dies reizende Bild. Den Schlag öffnet Erda in Chauffeuruniform: Fricka, eine angefressene Grande Dame mit Hang zum Handgreiflichen, ist gekommen, um sich bei ihrem Mann zu beklagen. (Daneben die Implikation, dass Wotan offensichtlich ein Techtelmechtel mit der Hausdame im deutlich erhöhten Alter pflegt – dieses Göttergesipp aber auch!). Und das tut sie mit Leidenschaft – wirft sich theatralisch auf den Rücksitz des Oldtimers, türmt sich vor ihrem charakterlich kleinen Mann auf, pfeffert dem seinen (offenbar ungeliebten, weil Erinnerung an seine Verträge und Verpflichtungen) Speer mit lautem Krachen zu Füßen. Dabei bleibt Marina Prudenskaya stimmlich feurig, ohne an Eleganz in den Forderungen an den Göttergatten einzubüßen. Nach Wegrollen des Oldtimers bleibt Wotan und Brünnhilde eine (erste) Auseinandersetzung unter nebligen Straßenlaternen vor schwärzlich gähnendem Hintergrund.

© Monika Rittershaus

Die Zwillinge hingegen haben es auf der Flucht zu dem verkohlten, hohlen Baumstamm geschafft, in dem Alberich einst um die Rheintöchter buhlte. Auch dieses Mal verheißt er nichts Gutes für das Geschehen. Brünnhilde erscheint – wie die Rheintöchter – aus einer der Hohlstellen des Stammes, um ihrem Halbbruder höflich die allgemeinen Geschäftsbedingungen seines nahenden Einzugs nach Walhall vorzulesen. Passend dazu: wieder Erda, welche selbigem Halbbruder als Symbol seines nahenden Todes ein verwestes Skelett überreicht. Der renitente Halbbruder jedoch zerbröselt das Teil zu Erde und Staub bei der Verweigerung seines Todes. Vergebens: nicht nur, dass Hunding zum Zweikampf mit Siegmund mit einer Axt auftaucht, die er wild herumschwingt. Während Wotan seinen Sohn festhält, rammt der Sieger drei-, vier-, fünfmal dem todgeweihten Wälsung Nothungs Trümmer in den Magen. Gekrümmt liegt der auf dem Boden, hält sich die Wunden, klammert sich mit blutverschmierten Händen an dem blütenweißen Hemd seines Vaters fest. Der Junge stirbt röchelnd und schluchzend – ein kurzes, verzweifeltes Leben, beendet mit der Brutalität, die dieses Leben immer schon heimsuchte. Das ist, um sich einem ausgesprochen passenden Ausdruck der aktuellen Jugendsprache zu bedienen, gottlos schrecklich, und genau so muss das.

Bröseliger Skelette sei Dank ergibt sich direkt die Verbindung zum letzten Akt: die Walküren, aschebeschmiert, karren Berge dieser verkohlten Leichen an (möglicherweise eine Anspielung auf nordische Feuerbestattungen), im Hintergrund lauert die verbrannte Weltesche, in welcher (erraten!) Erda sitzt. Die neun Schwestern agieren im Postapolakyptischen, wo von der irdischen Form sämtlicher Helden nichts mehr übrigbleibt – ein karges, grau-schmutziges Paradies, in dem die Herrinnen dieser Aschehaufen johlend und hüpfend schalten und walten. Zumindest, bis der Papa kommt. Und wo man vom Teufel spricht – Christopher Maltman als Wotan in seinem ersten kompletten Ring-Zyklus mag manchen nicht bassig genug sein, ist er doch hörbar mehr Bariton, doch dass er der Aufgabe gewachsen ist, ist unbestreitbar. Kernig und erdverbunden tönt er, mit genug Durchschlagskraft, textsicher bis zum Schluss. Im zweiten Akt mischt er Farben von Bitterkeit bis Eifersucht in die Stimme, als er von Alberichs heranwachsendem Sohn singt, als ob der Zwerg das Kind nicht verdient habe (dass er mit den eigenen nicht besser umgeht, entfällt ihm selbstverständlich). Während seiner großen Abschiedsszene löst sich die Stimme dann plötzlich von zwei Beinen, geht wie auf Zehenspitzen, gestaltet den Mittelteil des Schlussmonologs mit liedhaftem, unverbrauchtem Klang, der verdient von den sonst zurückhaltenden Briten im Saal fröhlich bejubelt wird. Sicherlich freut man sich auch, einen „hauseigenen“ Wotan, einen Landsmann, auf der großen Bühne zu sehen.

Auch für Elisabet Strids Brünnhilde sieht die Inszenierung eine klare Konzeption vor: sehr sechzehn Jahre alt, zwischen Träumerei und Energiebündel angelegt, in der letzten Szene keinesfalls zerknirscht auf dem Fußboden herumsitzend, sondern ein Teenager, der begriffen hat und dem Vater nun auf Augenhöhe begegnet und dem einzig die gesetzte Ausdrucksweise und die innere Ruhe fehlt, nicht aber mehr die Reife, um sich ebenbürtig auszudrücken. In ihrem Rollendebüt in der Walküre (Brünnhilde im Siegfried singt die Schwedin bereits) besteht die Sopranistin die anfängliche Feuertaufe der Partie, dieses legendär ungnädige „Hojotoho!“. Ist sie zwar bei der Premiere durchweg in ihren lauteren Einsätzen etwas ungeschliffen auf den kürzeren Tönen und am Ende ihrer Phrasen, hat sie dennoch die stimmliche Kraft, um eine einprägsame Vorstellung mitzugestalten und steuert gut konzentrierte Stimmführung in den leiseren Passagen („War es so schmählich…“) bei. In weiteren Engagements könnte der stimmliche Feinschliff realistisch Einzug halten. Erst am Ende weint das Mädchen laut – vor lauter abgefallener Spannung und Angst, ihren stoischen Vater nicht weichkochen zu können, und dann weint sie um die letzten Momente, die sie mit ihm verbringt, der vorher der Mittelpunkt ihres Lebens war.

© Monika Rittershaus

Bei dieser frischen und dennoch meist textnahen Konzeption der Charaktere fällt gegen Ende jedoch vor allem die Gegenwart einer auf, die nie spricht. Hut ab an Illona Linthwaite, die ihre statistischen Auftritte als Erda bis zuletzt sehr würdevoll bestreitet – aber ihre reine Anwesenheit reicht keinesfalls aus, das Thema der versehrten Natur im Ring adäquat zu diskutieren und zu entwickeln. Als Inspiration für diese verkohlte Welt nennt der Australier Barrie Kosky die Waldbrände in seinem Heimatland, die ihn überzeugten, die Natur selbst müsse zu einem Charakter im Ring werden, auch die verbrannte Weltesche, aus dessen Ruinen die Geschichte entspringt. Der Baum müsse fast eine Art Kreatur sein, erklärt sein Bühnenbildner Rufus Didwiszus, er müsse [wie] lebende Haut einer alten Frau sprechen. Das hat große Poesie und stellt einen so passenden wie bislang unerforschten Blickwinkel auf das Werk dar – in der Umsetzung auf der Bühne jedoch ist das Konzept vom Geschehen teilweise frustrierend detachiert, wie um die Handlung herumwabernd anstatt unmittelbar mit ihr verbunden. Möchtegern-Drahtzieher Wotan ist immerhin von brachial-frechem Ring-Raub zur gnadenlosen Instrumentalisierung unwilliger Kinder übergegangen, um seinen Willen durchzusetzen, doch Koskys Nutzung der Natursymbolik und dessen Aussagen hingegen bleiben zwischen Rheingold und Walküre scheinbar exakt gleich. Dass Mensch und Gott dabei sind, mit respektlosen Grenzüberschreitungen die Welt zu zerstören, ist ganz klar, aber wie sie es nun im Genauen tun, die Festmachung an bestimmten Textstellen, welche die rüde Interaktion arroganter Zweibeiner mit der ewigen Erde deutlich machen und darstellen, das wäre alles wünschenswert zu sehen.

So leidet dieses Konzept an einer gewissen Separation von den faktisch handelnden Personen, da sich die Vereinigung des Natur-Themas mit den (zwischen)menschlichen Handlungen auch in der Walküre nicht ganz so einfach ergibt wie im Rheingold, in dem der Götter-Sterbliche-Urwesen-Konflikt bereits vorgeschrieben ist. Erda selbst bleibt selbst teils äußerst mysteriös: warum sie die Liebe der Zwillinge gutheißt oder warum Siegmund ihrem Leib das Schwert Nothung entreißt, sind faszinierende Anstöße, aber eröffnen teils mehr Fragen, als dass sie sich an einer thematischen Weiterentwicklung beteiligen. Warum sollte Mutter Erde genau diese von Wotan abgesegneten Grenzüberschreitungen gutheißen, wenn andere sie ins Verderben reißen? Auch, dass die Natur sich rückblickend an ihre eigene Zerstörung erinnert, ist klug gedacht, aber nur dank Programmheft ersichtlich. So ist die Enttäuschung der leicht schale Nachgeschmack der düsteren Szenerie, das Gefühl, die Regie entziehe sich im Konzept ihrem eigenen potenziellen Mut, ihrer eigenen Präzision, zu der sie so offensichtlich fähig ist.

Antonio Pappano und das Orchester des Royal Ballet and Opera beginnen das Vorspiel zum ersten Akt fast wie mit einem Schlag. Das Werk verträgt Pappanos Handschrift ausgezeichnet – ein mit prächtiger Langsamkeit ausgespieltes Walhall-Motiv, die trockenen Akkorde von Hundings Ankunft, bedrohlich in ihrer Knappheit, bleiben im Gedächtnis sowie durchweg exzellent pünktliche Einsätze bis auf die Halbsekunde genau, wie man es selten hört; im zweiten Akt begleiten hervorgehobene Staccati der Trompeten inmitten des insgesamt weich gehaltenen Klangs des Vorspiels das Auftauchen der Titelfigur wie ein Laufrhythmus des spielenden Mädchens. Pappanos Kunst besteht darin, insgesamt sängerfreundlich zu agieren, niemanden weiter zu reizen, als stimmlich möglich wäre, ohne dass „sängerfreundlich“ das Hauptmerkmal des Dirigates wäre – im Gegenteil, gibt es doch Passagen auf die das Publikum sich offenkundig im Voraus bereits freute. Während der Todesverkündigung wird das Husten und Räuspern in den Kehlen runtergeschluckt, und für die lieblichen, langsam auf- und absteigenden Melodien von Brünnhildes Schlaf ist Pappano schlichtweg ein Spitzenkandidat. Ein balancierter Walkürenritt wird von den singenden Schwestern selbst ergänzt, die dem Ganzen zum ersten Mal eine Spur akustischer Wildheit verleihen – aber das geschieht an der richtigen Stelle und tut dem Dirigat keinen Abbruch. Am Ende gibt es dafür einen seltenen britischen Begeisterungssturm; das Orchester darf sich in Gänze auf der Bühne verneigen.

© Monika Rittershaus

Eine kurios großzügig bemessene zweite Pause von achtzig Minuten lässt dem Publikum genug Zeit, sich zu verköstigen und Energie für den Schlussapplaus zu tanken. Manche zieht es in das hauseigene Restaurant, andere picknicken spontan auf der Vortreppe des Hauses, mit mitgebrachten Sandwiches, Supermarktbierchen und Pommes unter Verwendung allerlei Fremdsprachen im persönlichen Gespräch. Draußen ist die Welt noch bunt und – weil fünfundzwanzig Grad, sonnig und Tag der Arbeit – leicht angeschickert. In derartiger Heiterkeit muss man sich erst zurechtfinden, blinzeln, stutzen. Und dann her mit den Pommes: den Frust rund um die statische Themenbehandlung zerkauen und schlucken, trotzdem bereitmachen zum Bravi-Brüllen.

Sophie Guldin, 9. Mail 2025

Besonderer Dank an unsere Freunde vom Opernmagazin


Die Walküre
Richard Wagner

Royal Ballet and Opera, London

Besuchte Vorstellung: 1. Mai 2025

Inszenierung: Barrie Kosky
Musikalische Leitung: Antonio Pappano
Orchester des Royal Ballet and Opera