Gießen: „Brokeback Mountain“

Premiere am 19. Februar 2022

Musikalisch stark und szenisch suggestiv

Eine Oper nach einer Filmvorlage? Nein. Das wäre nur ein müder Abklatsch, gerade bei einem so außerordentlichen Filmkunstwerk wie Ang Lees Brokeback Mountain aus dem Jahr 2005. Vielmehr haben der Film und die im Jahr 2014 uraufgeführte Oper des vor zwei Jahren verstorbenen Komponisten Charles Wuorinen dieselbe literarische Vorlage, nämlich eine Kurzgeschichte der Pulitzer-Preisträgerin Annie Proulx. Die Autorin selbst hat dann auch das Libretto zu der Oper geschrieben, die nun das Theater Gießen in einer beachtlichen Produktion herausgebracht hat.

Dabei unterscheiden Film und Oper sich dramaturgisch erheblich. Wo der Film auf die Wirkungsmacht seiner Bilder setzen kann, arbeitet die Oper mit genuin theatralischen Mitteln, und das heißt insbesondere, daß die Figuren stärker über ihre Worte charakterisiert werden. Zudem hat die Autorin versucht, die Geschichte der tragischen Liebe zweier Männer, die an ihren inneren Zwängen mindestens ebenso scheitern wie an den gesellschaftlichen, mit einem Blick auf ihr unmittelbares Umfeld zu weiten. So werden im Unterschied zum Film die Ehepartnerinnen der beiden Protagonisten stärker profiliert. Schließlich ist das Hauptmedium einer Oper der Gesang, und Cowboys sind recht schweigsam.

Der Film setzt über weite Strecken auf die herbe Schönheit der Berglandschaft, in der die beiden jungen Männer einen Sommer lang Schafe hüten. Auch die inszenierende Intendantin Cathérine Miville setzt zu Beginn der Aufführung auf die starken Videoeinblendungen, die Marc Jungreithmeier erstellt hat. Diese entfalten oft eine atmosphärische Wirkung, entgehen aber nicht immer der Gefahr des schieren Naturalismus mit Bergwelt samt Schafherde und schrammen mit einem malerischen Sternenhimmel haarscharf am Kitsch vorbei. Hübsch anzusehen sind diese Videos aber durchweg. Sie fügen sich zudem gut in das Bühnenbild von Lukas Noll ein. Dieses stellt sehr suggestiv den titelgebenden Berg in den Mittelpunkt. Dessen gezackte, schroffe Silhouette ist immer präsent.

Die Handlung erscheint gerade in der ersten Hälfte im Vergleich zum Film stark gerafft. Das erste körperliche Zusammenkommen der beiden Männer ergibt sich recht unvermittelt. Ihre Vereinigung wird dezent als Schattenspiel hinter einer Zeltwand angedeutet.

Die kurzen Szenen überspringen größere Zeiträume, was durch lakonische Einblendungen mitgeteilt wird. Dem leicht abstrahierenden Naturalismus des Settings entspricht die flüssige, schnörkellose und einleuchtende Personenregie. So vergeht die erste Stunde vor der Pause wie im Flug. Das ist eine gar nicht gering zu schätzende Leistung, denn die Partitur zeigt sich formal kompromißlos modern. Sie ist freitonal komponiert. Melodische oder harmonische Zusammenhänge werden strikt vermieden. Und doch fügt sich die Komposition gut zum Text. Das liegt zum einen daran, daß die Führung der Gesangsstimmen der Prosodie der englischen Sprache folgt und trotz ihrer Atonalität dadurch eine große Natürlichkeit besitzt. Zum anderen lebt die Partitur von den Klangfarben des reich und vielfältig besetzten Orchesters. Der suggestive Einsatz heller und dunkler Klänge etwa bedient letztlich dann doch überlieferte Hörgewohnheiten und ist daher für das Publikum gut konsumierbar. Hier und da blitzt dann sogar ein Westernklischee auf, ein paar Takte auf der Fidel etwa oder Trompetenkantilenen. Das Orchester unter der Leitung von Fabrizio Ventura arbeitet die Klangfarben plastisch heraus. Ein Blick in den Orchestergraben verrät, daß man offenbar nicht die für das Salzburger Landestheater erstellte, auf 24 Musiker reduzierte Kammerfassung gewählt hat, sondern entsprechend dem Original mit einer größeren Instrumentalpallette aufwartet.

Die Zuordnung der Stimmfächer ist geradezu traditionell geraten. Samuel Levine darf als schwämerisch-offener Cowboy Jack seinen klangvollen lyrischen Tenor in einigen saftigen Kantilenen vorführen, Sebastian Noack dagegen profiliert mit seinem kernigen Bariton den maulfaulen Ennis zunächst in kurzen, abgehackten Einwürfen, darf aber im Verlauf des Abends auch längere Gesangspassagen mit herber Eindringlichkeit gestalten. Darstellerisch gelingt es den beiden, ihre Figuren glaubwürdig zu charakterisieren.

Die von der Librettistin aufgewerteten weiblichen Figuren sind ebenso stark besetzt. Hailey Clark als Ennis‘ Ehefrau trumpft mit üppigem Sopran auf, während Ilseyar Khayrullova als Jacks Ehefrau mit klangvollem Mezzosopran überzeugt. Auch die vielen kleinen Partien, Charakterrollen oder Stichwortgeber zumeist, sind tadellos besetzt. In seinen kurzen Einsätzen fügt sich der Opernchor nahtlos in eine überzeugende Ensembleleistung ein.

Einmal mehr macht sich das kleine mittelhessische Haus um die Erweiterung des Repertoires verdient und präsentiert eine musikalisch starke, dabei szenisch werkdienliche Produktion, für die sich auch eine weitere Anreise lohnt.

Weitere Vorstellungen gibt es am 4. und 18. März, 9. und 29. April sowie am 12. Mai.

Michael Demel / 26. Februar 2022

Bilder: Rolf K. Wegst