„Eine Aufführung des Troubadour ist einfach: Man braucht einfach nur die vier besten Sänger der Welt.“ Dieses Caruso-Zitat zeigt, mit welchen Ansprüchen sich das Stadttheater Gießen bei seiner jüngsten Premiere zu messen hat. Es zeigt aber auch, mit welchem Selbstbewußtsein das kleine Haus seine Möglichkeiten einschätzt. Dieses Selbstbewußtsein ist berechtigt, denn man hat dort zwar nicht den Etat für ein Engagement der „vier besten Sänger der Welt“ (wobei noch zu klären wäre, wer das überhaupt sein soll), das eigene Ensemble verfügt aber über genügend Potential, um auch ein solches Filetstück des gängigen Repertoires adäquat auf die Bühne zu bringen. Mit Grga Peroš hat man einen idealen Verdi-Bariton unter Vertrag. Durch seine angenehm timbrierte Stimme mit ihrer klangsatten Mittellage und der mühelosen Höhe konnte er bereits als Rigoletto glänzen. Nun gelingt ihm als Graf Luna auch das stimmlich überzeugende Porträt eines rachsüchtigen Machtmenschen und verschmähten Liebhabers. Auch daß das Ensemblemitglied Julia Araújo mit der weiblichen Hauptpartie der Leonore gut zurechtkommen würde, hatte man geahnt. Mühelos präsentiert sie die Koloraturen, ihr Sopran besitzt aber auch den nötigen dramatischen Kern. Erneut bewundert man ihre dynamische Bandbreite, die zwischen beinahe schwebenden Piani bis hin zu dramatischer Expansion ohne Schärfe reicht. Auf Augenhöhe ergänzt wird diese fabelhafte Hausbesetzung durch Julia Rutigliano als Gast in der Rolle der Azucena. Ihr glutvoller Mezzo verfügt über eine leidenschaftlich lodernde Höhe ebenso wie über eine sonore Tiefe. Die Rolle hat sie sich vollständig einverleibt, durchlebt und durchleidet die Gefühlszustände dieser tragischen Figur von der liebenden Mutter bis zur mißhandelten Gefangenen. Darstellerisch wie musikalisch gebührt ihr innerhalb der guten Besetzung die Krone. Michael Ha ist in Gießen seit Jahren als Dauergast für die Filetstücke des Tenorrepertoires präsent, so daß man ihn zu den Stammkräften zählen kann. Er zeigt dieses Mal als Manrico wie schon zuletzt als Lenski in Eugen Onegin Differenzierungsvermögen. Obwohl seine Stärke die in hoher Lage herausgeschmetterten Spinto-Töne sind, wagt er dynamische Abstufungen, bei denen seine Stimme nicht derart glänzen kann. Insbesondere die Mittellage wirkt etwas stumpf, was man aber angesichts der Gesamtleistung und dem Gestaltungswillen jenseits eines anderenorts oft zu hörenden Dauerforte gerne in Kauf nimmt.

Die Oper hat keine Ouvertüre, sondern beginnt mit einer langen Szene eines Soldatenchors mit dem Hauptmann Ferrando. Dieser wird vom Ensemblemitglied Clarke Ruth gegeben, dessen kerniger Baßbariton leichte Anstrengungen in der Höhe offenbart. Der Chor des Hauses zeigt in unterschiedlichster Verwendung, ob als Soldaten, Zigeuner oder Nonnen Homogenität und Klangfülle (hörbar gut vorbereitet von Moritz Lauer). Auch das Orchester unter der Leitung von Jan Croonenbroeck stellt seine Qualitäten heraus. Wie schon im Rigoletto und in Moses in Ägypten werden besonders die Farben der Holzbläser herausgearbeitet, wobei die Klangbalance mit den anderen Gruppen gewahrt bleibt. Auch die Streicher präsentieren sich in guter Form, und das Blech fügt sich ohne Lärmen in den vollen, dabei differenziert ausgeleuchteten Gesamtklang. Der junge Dirigent wählt überzeugende Tempi, begleitet aufmerksam und flexibel und trägt das Seine dazu bei, das Drama spannungsvoll voranzutreiben.

Von Verdis „Erfolgstrias“, den drei Opern seiner mittleren Schaffensphase, mit denen ihm der endgültige Durchbruch als führender italienischer Komponist seiner Zeit gelang, gilt der Troubadour als szenisch am undankbarsten. Im Gegensatz zu La Traviata und Rigoletto, so wird oft angeführt, sei seine Handlung verworren und unverständlich. Das ist untertrieben. Es gibt nämlich überhaupt keine durchgehende Handlung. Und die homöopathischen Dosen an Aktion, die das Libretto vorsieht, sind vernachlässigenswert. Stattdessen werden Tableaus präsentiert, die allenfalls lose miteinander verbunden sind. Die größte Leistung dieser Neuinszenierung von Helena Röhr ist es daher, gleichwohl einen stringenten Handlungsverlauf für das Publikum nachvollziehbar und unmittelbar begreiflich zu machen.

Schon der Programmzettel bietet hier wertvolle Orientierung, indem er unter den Originalüberschriften des Librettos („Das Duell – Die Zigeunerin – Der Sohn der Zigeunerin – Die Hinrichtung“) nicht nur den Inhalt der Szenen wiedergibt, sondern immer auch einen ergänzenden Abschnitt „Nicht gezeigte Handlung“ präsentiert. Zwar weist die Leiterin der Musiktheatersparte, Ann-Christine Mecke, die für die Dramaturgie der Produktion verantwortlich zeichnet, in ihrem instruktiven Einführungstext darauf hin, daß die nichtgezeigten Handlungselemente, die Vorgeschichte, die Kampfhandlungen, auf der Bühne immerhin von den Protagonisten erzählt werden. Sonst kennte man sie ja nicht. Man achtet aber gerade bei dieser Oper angesichts der Dichte Verdi’scher Ohrwürmer weniger auf die Texte. So greift die Regie zu einem Kniff und fügt Erzählerinnen hinzu, die im Programmheft als „Zeuginnen“ bezeichnet werden und deren Zahl vier ist, wohl damit niemand auf die Idee kommt, Parallelen etwa zu den drei Hexen in Macbeth, mehr noch zu Wagners erzählenden drei Nornen in der Götterdämmerung zu ziehen. Bei ihren Auftritten hört man von Ferne Kriegssirenen. Sie wenden sich auf Deutsch an das Publikum, setzen bereits dadurch einen Kontrapunkt zum Gesang in italienischer Sprache. Ihre abwechselnd vorgetragenen Erläuterungen sind mehr als Funktionsprosa, sondern besitzen eine eigene poetische Qualität. Man hat es hier also nicht mit einer dieser meist unnötigen Regisseurs-Theater-Zutaten zu tun, sondern mit sehr nützlichen Hilfestellungen für das Publikum in künstlerisch wertvoller Verpackung. Leider schweigt der Programmzettel sich zur Urheberschaft der ergänzenden Texte aus.
Die solcherart verbundenen Szenen werden in einem Einheitsbühnenbild präsentiert, wodurch längere Umbaupausen vermieden werden. Die Regisseurin hat hier im Verbund mit Lukas Noll einen schmucklosen, gelb angestrichenen Innenraum errichten lassen, dessen Wände auf der rechten Seite mit gelben Vorhängen verhüllt sind. Im späteren Verlauf zeigt sich, daß die Vorhänge Brandspuren verbergen. Damit soll auf das omnipräsente Motiv des Flammentods verwiesen werden, der in der Vorgeschichte die Mutter Azucenas ebenso ereilt hat wie ihr Kind und am Ende auch ihrem Leben ein grausames Ende setzen wird. Helena Röhr präsentiert darin mit wenigen Requisiten schnörkellos die szenischen Abläufe. Wo man diese Geschichte zeitlich verortet, ist letztlich gleichgültig. Åsa Gjerstad hat sich in ihren Kostümen gegen das Mittelalter der Vorlage entschieden und präsentiert einen Mix aus aktuellen Kleidungsstilen.

Was kann man von einer Neuproduktion dieses herausfordernden Stückes Besseres berichten, als daß es Regie und Dramaturgie gelungen ist, eine notorisch „unverständliche“ Opernhandlung nachvollziehbar und spannend auf die Bühne zu bringen? Musikalisch hat das kleine Gießener Theater dabei wieder gezeigt, daß es mit seinen Stammkräften und unter Heranziehung lediglich eines fulminanten Gastes in der Lage ist, selbst die großen Opernreißer musikalisch adäquat zu realisieren.
Michael Demel, 31. März 2025
Der Troubadour (Il trovatore)
Dramma lirico in vier Teilen von Giuseppe Verdi
Stadttheater Gießen
Premiere am 29. März 2025
Inszenierung: Helena Röhr
Musikalische Leitung: Jan Croonenbroeck
Philharmonisches Orchester Gießen
Weitere Aufführungen am 15. und 19. April, 3. und 24. Mai, 22. und 28. Juni sowie am 6. Juli 2025.