Gießen: „Xerxes“, Georg Friedrich Händel

Die Partitur von Händels Oper Serse (Xerxes) sieht zwei Partien in der hohen Lage von Frauenstimmen vor, die dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden. Die Titelrolle wurde bei der Uraufführung 1738 von einem Sopran-Kastraten gesungen. Heute wird sie meist von einem Mezzosopran als Hosenrolle gegeben. Schon bei der Uraufführung war die männliche Rolle von Xerxes‘ Bruder Arsamene mit einem weiblichen Alt besetzt worden. Darüber hinaus tritt Amastris, die Verlobte des Xerxes, ebenfalls ein Alt, zunächst als Mann verkleidet auf. Ein Mann in Frauenstimmlage, eine Frau, die einen Mann darstellt und eine Frau, die sich als Mann verkleidet: Schon das Original ist eine wahre Travestie-Show. Der russische Regisseur Philipp Grigorian dreht die Schraube des Geschlechterwechsels – oder der Genderfluidität, wenn man es trendig formulieren will – in seiner neuen Inszenierung am Stadttheater Gießen noch einige Windungen weiter. Aus Xerxes‘ Bruder Arsamene wird die Schwester Arsamena, die aber nach wie vor in eine Frau verliebt ist, Romilda. Deren Schwester Atalanta aber wird hier trotz Sopranlage zum Kerl, der als Atalantes zudem noch ein Macho wie aus dem Bilderbuch ist. Dem lesbischen Paar Arsamena-Romilda wird noch ein schwules Paar hinzugesellt, indem der Diener Elviro einen (stummen) Partner hinzuerfunden bekommt.

Fanny Lustaud (Xerxes) und Annika Gerhards (Romilda) / © Rolf K. Wegst

Was auf dem Papier verkopft und wie eine verkrampfte Verbeugung vor einem woken Zeitgeist klingt, gelingt in der Umsetzung locker und wirkt mindestens so plausibel wie die Vorlage. Zudem stellt die Regie ihr Spiel mit Geschlechterrollen und entsprechenden Zuschreibungen nicht in den Vordergrund, sondern arbeitet damit unterhaltsam die Buffo-Elemente heraus, die dieser angeblich „ernsten“ Oper (opera seria) innewohnen. Der Coup ist das Erzählen von Händels antikisierendem Liebesverwirrspiel als in der Gegenwart angesiedelte Migrationsgeschichte: Xerxes muß samt Schwester und Diener auswandern. Der erste Akt spielt daher im Wartebereich eines Flughafens und im Vorraum zu den dortigen Toiletten. Grigorian nimmt als sein eigener Bühnenbildner das Geschlechterthema dezent auf und unterteilt den Vorraum entsprechend den Toilettentüren in einen Bereich in Mädchen-Rosa und einen in Bübchen-Blau. Mehr als eine gelungene Pointe ist es, daß Xerxes den Baum, den er in seiner berühmten Auftrittsarie „Ombra mai fu“ anschmachtet, als Bonsai-Version in einem Blumentopf mit auf die Reise nehmen will, ihn aber im Waschraum kurz aus den Augen läßt, woraufhin eine Putzfrau ihn im Abfallcontainer entsorgt. Dort nimmt der Baum menschliche Gestalt an und entsteigt ihm als grün gewandete Amastris mit Blättern im Haar – auch eine Form von Travestie. Dieses Kurzschließen von Xerxes‘ schrulliger Liebe zu einem Baum, den er aus Unachtsamkeit verliert, mit der Nichtbeachtung seiner Verlobten Amastris ist so originell wie plausibel. Musikalisch beglaubigt der Regisseur dies dadurch, daß Xerxes unvermittelt ein weiteres Mal zu „Ombra mai fu“ ansetzt, dann aber nach der ersten Zeile von der Bühne abgeht, woraufhin der Mensch gewordene Baum übernimmt und weitersingt.

Geliebter Baum: Fanny Lustaud (Xerxes) mit Polina Artsis (Amastris) / © Rolf K. Wegst

Die Inszenierung führt die Protagonisten in ein Flugzeug, wo Elviro in einer weiteren Travestie-Nummer als Stewardess auftritt, in die Zollkontrolle nach der Landung, in das Büro der Einwanderungsbehörde und schließlich in eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge, bei der die Raumunterteilung mit einer Hälfte in Bübchen-Blau und einer in Mädchen-Rosa die Geschlechterthematik erneut aufnimmt. Der Regie geht es dabei nicht darum, politische Statements zur Migrationspolitik abzugeben, sondern vielmehr das jeweilige Setting als Spielwiese zu nutzen, um daraus mit treffsicherem Humor Funken zu schlagen. Dieses Konzept geht wunderbar auf, nicht zuletzt weil sämtliche Darsteller mit ansteckender Spiellaune bei der Sache sind. Dem Publikum wird so ein sehr unterhaltsamer und trotz drei Stunden Dauer höchst kurzweiliger Abend geboten.

© Rolf K. Wegst

Das musikalische Fundament dazu liefert das gut disponierte Orchester unter der Leitung von Vladimir Yaskorski. Die Gießener Musiker stellen erneut ihre Kompetenz in Sachen historisch informierte Aufführungspraxis heraus und präsentieren einen knackigen und sehr farbigen Barocksound, der große Freude bereitet. In der Titelrolle sucht Fanny Lustaud bei ihrer Auftrittsarie noch nach dem rechten Stimmsitz, kommt aber schnell auf Betriebstemperatur und überzeugt im weiteren Verlauf mit ihrem vollen Mezzo bei souveräner Koloraturgeläufigkeit. Polina Artsis als „geliebter Baum“ Amastris verfügt ebenfalls über einen klangsatten Mezzosopran und zudem über das darstellerische Talent, als singende Pflanze zwar komisch, nicht aber lächerlich zu wirken. Neben diesen beiden Gästen darf das hauseigene Ensemble seine Qualitäten unter Beweis stellen. Bei Julia Araújo als Atalantes erzeugt der Kontrast ihres glockenhellen Soprans mit der Parodie eines machohaften Halbstarken die Fallhöhe, aus der Komik entsteht. Annika Gerhards präsentiert die Romilda mit herberem Sopran und legt in der Zollkontrolle einen sehenswerten Tobsuchtsanfall hin. Für die Arsamena bringt Jana Marković einen gut durchgeformten Mezzosopran mit, scheint aber in der besuchten Aufführung einen schlechten Tag erwischt zu haben und kämpft immer wieder mit der Intonation. Clarke Ruth gibt den Ariodantes mit kernigem Baßbariton. Der in Gießen vielfach bewährte Tomi Wendt (Elviro) hat besonderen Spaß dabei, in der Verkleidung als Stewardess mit verstellter Stimme seine Blumen-Arie zum Kabinettstückchen zu machen. Der klangsatt und präzise singende Chor rundet das Bild einer musikalisch geglückten Aufführung ab. Die Chorsänger überzeugen obendrein darstellerisch mit großer Spiellust sowohl als Kollektiv als auch in den vielen stummen Rollen, mit denen die Inszenierung angereichert ist.

Das gut gelaunte Publikum spendet diesem szenisch erfrischenden und musikalisch runden Abend begeisterten Applaus.

Michael Demel, 18. Februar 2024


Serse (Xerxes)
Dramma per musica von Georg Friedrich Händel

Stadttheater Gießen

Aufführung am 16. Februar 2024
Premiere am 10. Februar 2024

Inszenierung und Bühnenbild: Philipp Grigorian
Musikalische Leitung: Vladimir Yaskorski
Philharmonisches Orchester Gießen

Weitere Aufführungen am 25. Februar, 9. und 16. März, 30. Mai sowie am 1. Juni 2024.