Hannover: „Lear“, Aribert Reimann

Aribert Reimanns gewaltige Oper Lear ist eines der wenigen zeitgenössischen Werke des Musiktheaters, das nach der Münchener Uraufführung 1978 schnell den Weg ins Repertoire der Opernhäuser gefunden und sich dort auch behauptet hat. Das liegt sicher an der hohen Qualität des von Klaus H. Henneberg aufgrund der dramatischen Shakespeare-Vorlage verfassten Librettos, aber ebenso an der von Beginn an fesselnden, ungemein vielschichtigen Komposition. Äußerst komplex gestaltete Klänge zeichnen die verschiedenen Charaktere der Personen, wie beispielsweise die beiden „bösen“ Töchter Goneril und Regan mit sperriger Stimmführung zu starren Akkorden und mit hysterischen Tonfolgen der hohen Holzbläser, unterstrichen von harten Schlagzeug-Attacken. Dagegen wird die dritte Tochter Cordelia mit vielen Lyrismen gekennzeichnet; schließlich wird der ausbrechende Wahnsinn Lears durch große Cluster den Heide-Stürmen und damit Naturgewalten gleichgestellt.

Michael Kupfer-Radecky/Kiandra Howarth/Angela Denoke/Meredith Wohlgemuth
© Sandra Then

Die schrecklich blutrünstige Handlung der Oper sei hier kurz skizziert: Es beginnt damit, dass sich König Lear von den Regierungsgeschäften zu Gunsten seiner drei Töchter zurückzieht und seine Tochter Cordelia verstößt, nachdem sie sich nicht öffentlich liebevoll und dankbar über das zu erwartende Erbe gezeigt hat. Im Folgenden streiten die Töchter Goneril und Regan um die Macht, und die Umgebung des Königs intrigiert und kämpft um Einfluss im Reich. So gelingt es Edmund, dem unehelichen Sohn des Grafen Gloster, ihren Vater dazu zu bewegen, seinen legitimen Sohn Edgar zu verstoßen. Goneril und Regan fordern den Vater auf, sein Gefolge zu entlassen, was er ablehnt. Schließlich irrt Lear in fortschreitendem Wahnsinn durch die sturmumtoste Heide. Der König von Frankreich plant einen Schlag gegen Britannien, um Lear und Cordelia wieder in ihre Rechte einzusetzen. Da Gloster nach wie vor zu Lear steht, reißen ihm Regan und ihr Gatte Cornwall die Augen aus. Goneril macht Edmund zu ihrem Heerführer und zugleich zu ihrem Liebhaber. Der blinde Gloster lässt sich von seinem Sohn Edgar, den er nicht erkennt, an die Küste führen, um sich in den Tod zu stürzen, was der Sohn verhindert. Lear trifft auf Cordelia, die sich um ihn kümmert; sie wird auf Edmunds Befehl umgebracht. Im Streit um die Macht wird Regan von Goneril vergiftet. Edgar fordert seinen Bruder zum Duell und tötet ihn; Goneril begeht Selbstmord. Am Schluss erscheint Lear mit der Leiche Cordelias und stirbt verzweifelt.

In Hannover steht die faszinierende, stets die Bühnenhandlung nachhaltig unterstützende Musik im Zentrum der im Ganzen gelungenen Produktion. Das in allen Gruppen übermäßig stark besetzte Niedersächsische Staatsorchester Hannover meisterte die ungemein hohen Anforderungen der Komposition in hervorragender Weise, auch in den eindrucksvollen Orchester-Zwischenspielen. Da der Graben mit den Streichern und Bläsern voll besetzt war, hatte man die Harfen vor einer Proszeniumsloge sowie sechs Schlagwerker auf der erhöhten Hinterbühne postiert, was dazu führte, das in den vielen gewaltigen Klangeruptionen das Schlagen und Hämmern geradezu körperlich auf die Zuhörer einwirkte. GMD Stephan Zilias leitete den Riesenapparat mit ruhiger, großer Zeichengebung und gab den Sängerinnen und Sängern auf der Bühne durchgehend genügend Raum zur Gestaltung ihrer vielschichtigen Partien, sodass auch die musikalischen Beruhigungsphasen ihre tröstliche Wirkung entfalten konnten.

Michael Kupfer-Radecky/Frank Schneiders
© Sandra Then

Die Sängerdarsteller hatten in ihren jeweiligen Partien ebenfalls in jeder Beziehung schwierige Aufgaben zu bewältigen, wenn man nur an die vielen aberwitzigen Intervalle denkt, was ihnen insgesamt ausgezeichnet gelang. In der Gestaltung des Königs Lear hinterließ Michael Kupfer-Radetzky positiven Eindruck, indem er die Wandlung vom trotz seines Rückzugs an der Macht klebenden Herrscher zum verzweifelten Wahnsinnigen mit nie nachlassender Intensität vollzog. Dabei setzte er seinen ausdruckskräftigen Bariton sicher und textverständlich ein; er beherrschte die dramatischen Attacken ebenso überzeugend wie die gefühlvollen Lyrismen der Partie. Die skrupellos machtbesessene Goneril war Angela Denoke, die mit höhen- und treffsicherem Sopran beeindruckte, wenn man auch in ihrer Schlussszene vor Gonerils Selbstmord leisere Töne vermisste. Die komplizierten koloraturähnlichen Passagen ihrer Partie bereiteten Kiandra Howarth als gefühlskalte Regan keine Probleme. Mit durchgehend passend lyrisch geführtem Sopran gefiel Meredith Wohlgemuth in der dankbaren Rolle der Cordelia. Wie der Countertenor Nils Wanderer als Edgar die höchst schwierigen Vokalisen mit bruchlosen Registerwechseln meisterte, das hatte herausragendes Niveau. Gewohnt souverän und glaubhaft füllte Frank Schneiders mit seinem flexiblen Bass die Partie des geblendeten Gloster aus. Der schurkische Edmund war Robert Künzli anvertraut, den er mit allzu viel heldischer Kraft versah. Tenoralen Glanz verbreitete Marco Lee als treuer Kent, während der Schauspieler Nico Holonics als Narr im rosa Tierkostüm im 1.Teil Sinnsprüche zum Besten gab.

Angela Denoke/Kiandra Howarth/Nils Wanderer/Frank Schneiders/Meredith Wohlgemuth
© Sandra Then

In den kleineren Rollen bewiesen Darwin Prakash mit markantem Bariton als Albany, Pawel Brozek als klarstimmiger Cornwall und Yannick Spanier als basskräftiger König von Frankreich ebenso wie Fabio Dorizzi (Bedienter) und Ingolf Kumbrink (Ritter) die Solidität des Hannoverschen Opernensembles. Ohne Fehl absolvierte der von Johannes Berndt und Lorenzo Da Rio einstudierte Herrenchor die kurzen Chorszenen klangvoll ausgeglichen.

Dass die Premiere ein großer Erfolg wurde, lag natürlich auch an der stimmigen Inszenierung des britischen Regisseurs Joe Hill-Gibbins, der die Akteure glaubhaft zu führen wusste. Dabei half ihm das spektakuläre Bühnenbild von Tom Scutt und David Allen, dessen Besonderheit sich in über 300 großen hellgrauen Pappkartons manifestierte. Zunächst waren sie zu einer hohen Wand aufgebaut, vor der Lear seine Abdankung verkündete. In der großen Sturmszene wurde jede Menge bühnentechnischer Mittel aufgewendet, als die Karton-Wand zusammenpolterte, Podeste herauf und hinunter gefahren wurden, es zum Donner aus dem Orchester Blitze und sogar Regen gab, der auf die Kartons prasselte (Licht: Andreas Schmidt). Die Kostüme von Evie Gurney trugen farblich passend zur Charakterisierung der jeweiligen Persönlichkeit bei.

Am Schluss gab es starken, mit Bravos gemischten Beifall des begeisterten Premierenpublikums für alle Mitwirkenden und das Regieteam.

Gerhard Eckels, 11. Februar 2024


Lear
Oper von Aribert Reimann

Staatsoper Hannover

Premiere am 10. Februar 2024

Inszenierung: Joe Hill-Gibbins
Musikalische Leitung: Stephan Zilias
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover

Weitere Vorstellungen: 14. Februar sowie 3.,8.,10.,21. März 2024