Bremen: „Jenufa“

Premiere am 09.04.2022 besuchte Aufführung am 26.06.2022

Vernichtender Ehrenkodex

Da ist dem Regisseur Armin Petras und dem Dirigenten Yoel Gamzou zusammen mit einem hervorragenden Sängerensemble eine spannende und tief bewegende Produktion gelungen. Jenůfa von Leoš Janáček spielt eigentlich in Mähren im 19. Jahrhundert. Petras verlegt die Handlung in Zeiten des Umbruchs im letzten Jahrhundert: Im 1. Akt erinnern lässliche, aber nicht störende Videos (von Rebecca Riedel) an den Prager Frühling und den Zusammenbruch der Sowjetunion. Der menschenvernichtende Ehrenkodex und die alten Begriffe von Schande sind in dem Dorf, in dem Jenůfa lebt, aber noch präsent. Jenůfa erwartet von dem Hallodri Števa ein uneheliches Kind. Der ist aber nicht gewillt, seinen Pflichten nachzukommen. Da beschließt die Küsterin, Jenůfas Ziehmutter, das Baby umzubringen, um Jenůfa (und vor allem sich) die „Schande“ zu ersparen. Während der Hochzeit Jenůfas mit ihrem Stiefbruder Laca kommt alles ans Tageslicht. Die Küsterin bekennt sich schuldig und Jenůfa verlässt mit Laca das Dorf für eine glückliche Zukunft.

Bühnenbildner Julian Marbach hat für die Mühle, die Wohnräume und den Dorfplatz eine zweistöckige Konstruktion geschaffen, die mittels Drehbühne immer wieder eindrucksvoll variiert wurde. Petras gelingt eine intensive Charakterisierung aller Personen. Nadine Lehner zeigt beklemmend die Entwicklung Jenůfas vom schwärmerischen jungen Mädchen zum traumatisierten Opfer in tiefster Verzweiflung bis zur gereiften Frau, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt. Ihre stimmlichen und darstellerischen Facetten sind dabei von atemberaubender Vielfalt. Nicht weniger intensiv agiert Ulrike Schneider als Küsterin. In ihrer großen Szene im 2. Akt zeigt sie, dass diese Küsterin nicht nur die eiskalt kalkulierende Despotin ist, sondern auch mit Verzweiflung und Gewissensqualen kämpft. In diesem Akt haben die Videos eine sehr sinnvolle Funktion, weil sie die Gefühle der Küsterin und das Elend von Jenůfa in Nahaufnahmen noch verdeutlichen und verstärken. Hier zeigt sich die Inszenierung von ihrer stärksten Seite. Überflüssig hingegen ist das hinzugefügte Telefongespräch von Števas neuer Verlobter (Marie Smolka) vor dem 3. Akt.

Die beiden Tenorrollen werden von Luis Olivares Sandoval (Laca) und Christian-Andreas Engelhardt (Števa) sehr ansprechend gestaltet, wobei Kostümbildnerin Patricia Talacko den Števa mit seiner scheußlichen Perücke zur Karikatur degradiert. Die weiteren Partien sind mit Nathalie Mittelbach (alte Buryia), Stephen Clark (Altgesell), Christoph Heinrich (Richter) und Ulrike Mayer (Frau des Richters) bestens besetzt. Der Chor des Bremer Theaters (Einstudierung Alice Meregaglia) beweist einmal mehr seine hervorragende Qualität.

Das gilt auch für die Bremer Philharmoniker, die unter der Leitung von Yoel Gamzou die gesamt Pracht von Janáčeks Musik in allen Farben und Schattierungen zum Klingen bringen. Die mächtigen Ausbrüche, die folkloristischen Anklänge und die zarteren Momente – alles wird in den richtigen Proportionen zueinander gesetzt. Ein großer Abend auch für die Bremer Philharmoniker!

Wolfgang Denker, 27.06.2022

Fotos von Jörg Landsberg