Münster: „Faust“

Premiere 10. September 2016, besuchte Vorstellung 25. September 2016

Anklänge an Goethe

Über gleich „zwei Fäuste für Westfalen“ kann sich der dortige Opernfreund freuen. Aufgeführt wird nämlich parallel im Theater Münster und im Opernhaus Dortmund die Oper „Faust“ von Charles Gounod. Aus Handlungselementen (Studierstube, Gretchen-Tragödie) von Goethes „Faust“ entstand seine „opéra lyrique“ oder mit eingefügtem Ballett (Walpurgisnacht) sogar „grand opéra“ im französischen Stil des 19. Jahrhunderts.

Urkundlich erwähnt wird der Aufenthalt des historischen Johann Faust im Jahre 1535 während der Herrschaft der Wiedertäufer in Münster. Das bezog Regisseur Aron Stiehl nicht in seine Inszenierung der Oper von Gounod ein, die unter der musikalischen Leitung von Stefan Veselka kürzlich am Theater Münster Premiere feierte.

Vielmehr gab es Anklänge an Goethe, wenn etwa noch vor Beginn der Introduktion ein „Vorspiel auf dem Theater“ stattfand, wo Méphistophélès als Conférencier kostümiert ein kleines Theater auf dem Theater enthüllte, in dem dann ein grosser Teil der Handlung spielte. Im ersten Akt beklagte darin der alte Faust fast begraben zwischen riesigen Büchern sein vergebliches Leben. Später stand darin ein kleines Haus für Marguerite und ein dürrer Baum, beides diente zum Schluß verschneit und nach vorn vergittert als Marguerites Gefängnis. (Bühne und Kostüme Dietlind Konold). Allerdings wurde für einzelne Chorszenen auch der Platz vor dem Häuschen sowie für Soloauftritte auch ein Steg vor dem Orchestergraben bespielt, seit dem legendären „Ring“ eine Tradition in Münster.

Entstanden ist Gounods Oper nach dem Boulevardstück „Faust et Marguerite“ von Michel Carré, der zusammen mit Jules Barbier auch das Libretto geschrieben hat. In Münster hätte es ebenso passend „Méphistophélès et Marguerite“ heissen können. Ersterer steuerte die gesamte Handlung. Um Faust willenlos sich unterzuordnen, hatte er ihn mit dem Verjüngungstrank drogenabhängig gemacht und sorgte bei Bedarf für Nachschub. Im „Rondo vom goldenen Kalb“ regnete es nicht nur Geldscheine, sondern er verteilte Goldstücke wie Hostien bei einer Kommunion aus einem Kelch. Er legte Marguerite den gefundenen Schmuck und einen prächtigen Pelz an, sorgte für rechtzeitige Auftritte von Valentin und Marthe, ließ Sterne für die Liebenden aufleuchten und trat in der Kirchenszene als grausam-höhnischer Kardinal auf, der Marguerite dazu verleitete, ihr Baby auf offener Bühne zu ermorden.. Deshalb hatte man den Eindruck, daß es ihm mehr darum ging, die unschuldige Marguerite – diese deshalb zuerst ganz in weiß gekleidet – ins Unglück zu stürzen als Fausts Seele in die Hölle zu befördern.

Dies Konzept für die Rolle des Méphistophélès konnte nur gelingen, weil Gregor Dalal es optimal umsetzte. In immer wechselnden Kostümen spielte er den eleganten grausamen Zyniker, etwa, wenn er beim grossen Liebesduett von Faust und Marguerite genußvoll und hörbar in einen Apfel biß. Stimmlich gelangen ihm in verschiedenen Stimmfärbungen alle Facetten der Partie bis zu ihren ganz tiefen Tönen hin einschließlich Koloraturen großartig, mächtig aufdrehend beim „Rondo vom goldenen Kalb“ genüßlich schadenfroh in der Sérénade. Dazu war er weitgehend textverständlich.

Dies konnte man soweit bei einem Sopran möglich auch bei der Marguerite von Henrike Jacob feststellen. Ihr helles Stimmtimbre paßte gut zur unerfahrenen jungen Frau, wie sie etwa angetan mit dem gefundenen Schmuck in schüchterner Eitelkeit sich an ihrem eigenen Anblick erfreute. Dabei gelangen ihr Triller und Koloraturen der „Juwelenarie“ beweglich und bis zu den Spitzentönen tongenau. Verzweiflung zeigte sie auch stimmlich in der Kirchenszene und behielt genügend Stimmkraft für den hymnischen Schluß. Musikalischer Höhepunkt war ihr Liebesduett mit Faust.

Dieser, dargestellt von Paul O’Neill, erreichte stimmlich scheinbar ohne Anstrengungen die Spitzentöne seiner Partie, das galt nicht für deren tiefere Töne. Sehr schön legato auch im p gelang sein Hit, die Kavatine „Salut! Demeure chaste et pure“ (Sie gegrüßt keuscher und reiner Raum)

Eine Entdeckung des Abends war Filippo Bettoschi als besonders bei der Verfluchung Marguerites stimmgewaltiger Valentin. Bei seinem schon in der Introduktion vom Orchester angestimmten Gebet vor dem Aufbruch zum Krieg „Avant de quitter ces lieux“ beeindruckte er mit langen gut gehaltenen Legatobögen.

Lisa Wedekind sang die Hosenrolle von Marguerites hoffnungslosem Verehrer Siébel, darunter insbesondere mit beweglicher Stimme seine an die abwesende Geliebte gesungene „Blumen-Arie“ (Faites lui mes aveux)

Ein kleines Kabinettstückchen machte Suzanne McLeod aus der Partie der heiratswütigen Marthe. Plamen Hidjov war Wagner.

Opern- und Extrachor in der Einstudierung von Inna Batyuk waren beim größten Teil ihrer Auftritte nur mit Oberkörpern und nur dann sichtbar, wenn sie aus der Wand rechts und links neben der kleinen Bühne in zwei Etagen übereinander angebrachte viereckige Öffnungen aufklappten. Nach beendetem Gesang wurden die Klappen wieder geschlossen. Nur eine Sängerin schloß ihre Klappe nicht, sondern strickte an einem immer länger werdenden Schal – vielleicht eine Anspielung auf Goethe, wo ein Geist im I. Akt von wechselndem Weben und glühendem Leben spricht.

Die gesamte Strassenszene mit dem Soldatenchor – normalerweise im IV. Akt – war bis zum Auftreten Valentins gestrichen, also weniger Gesang für die Männer. Dafür gab es für den Chor eine Andeutung von Walpurgisnacht, während dahinter Marguerite mit dem Sarg ihres Kindes im zugeschneiten Kerker schmachtete. In der Tanzszene zu Beginn hörte man kleine Ungenauigkeiten, seine ganze stimmliche Kraft zeigte der Chor in der Kirchenszene, der geistliche Schlußhymnus kam aus dem Off. Dabei schritt Marguerite ins Erlösung verheissende Licht, während Mephisto – nicht nach Gounod, aber nach Goethe – mit einem Fingerzeig Faust andeutete, daß es weiterginge zur „Tragödie zweiter Teil“.

Stefan Veselka fand mit dem Sinfonieorchester Münster sowohl tragische langsame Töne, schon in der Introduktion, wie auch beschwingte Walzerrhythmen und vor allem auch durch kleine aber passende Ritardandi französisch-sentimentale Stimmung, ohne in Kitsch zu abzurutschen. Hervorzuheben waren instrumentale Soli, schon der Bläser in der Introduktion, dann von Klarinette, Flöten und Oboe, das Violinsolo zu Fausts Kavatine und die Harfen besonders zum Schluß.

Das Publikum bestand im Gegensatz zu sonst aus vom Oberbürgermeister eingeladenen Gästen aus der Politik und anderen für wichtig gehaltenen Personen. Diese sogenannte „festliche Spielzeiteröffnung“ ist eine langjährige Tradition in Münster. So waren nicht viele regelmässige Besucher im Theater. Trotzdem spendeten sie langanhaltenden Applaus für den „abwechslungsreichen Abend“ (so ein Zuschauer) mit Hervorhebung der Darsteller von Méphistophélès und Marguerite sowie des Dirigenten.

Sigi Brockmann 27. September 2016

Fotos (c) Theater Münster / Oliver Berg