Wien: „Fidelio Urfassung (Leonore)“

„Oberg’scheit“ nennen Kinder die albernen Wichtigtuer, die alles besser wissen. Dieses Vokabel könnte man für so manchen Regisseur hernehmen, der es nicht als seine Aufgabe betrachtet, ein Werk im Sinne des Schöpfers zu seiner besten Wirkung zu bringen – sondern sich selbst aufzuplustern, seine Einfälle bewundern zu lassen, seine „Konzeptionen“ zu entwickeln. Was ihm halt so durch die Birne rauscht (wie Gerhard Stadelmaier es so unnachahmlich formuliert hat). Das Ergebnis sieht dann aus wie „FIDELIO URFASSUNG (LEONORE)“ auf der Bühne der Wiener Staatsoper.

Sicher, wann, wenn nicht jetzt, zum rundesten Jubiläum, das alle derzeit Sterblichen zum Thema Beethoven erleben werden (einen 250. Geburtstag – wie oft gibt es ein so „rundes“ Datum schon?), soll man sich Beethoven wieder hernehmen. Und da er ja für das Theater nichts anderes hinterlassen hat, doktere man an den drei Fassungen seiner „Fidelio“-Oper herum (als ob das nicht schon des öfteren geschehen wäre…) Dennoch, dergleichen ehrt die Interpreten. Ja, wenn es eine aufrichtige Fragestellung wäre…

Eigentlich geht es ja – lassen wir die Regie einmal weg – um das Werk an sich, um die Dramaturgie und mehr noch, um die Musik. Warum hat dieser „Fidelio“ beim ersten Mal nicht funktioniert? Dass 1805 die Franzosen als Besatzer in Wien waren, unruhige Zeiten, das kann ja nun in einer so musikverrückten Stadt nicht ausreichen, da muss mehr passiert sein. Da muss es auch am Werk gelegen haben. Und man hört die Schwächen der Urfassung angesichts der Endfassung, die schon viel, viel besser ist. Beethoven war damals, bei seinen musikdramatischen Anfängen, noch „ungelenk“ in der dramatischen Form. Was am Ende ein glänzendes Marmormonument geworden ist, wirkt hier noch holzschnitthaft, oft rau.

Man kann es am besten vielleicht an der Florestan-Arie belegen – wie viel damals daran noch nicht gemacht wurde! Oder an der „Namenlosen Freude“, die uns heute, in der Endfassung, vom Sessel reißt, und die damals in einem (Verzeihung, größter Meister) Wischi-Waschi-Finale einfach unterging.

Wie klug auch, später das völlig unnütze und nicht gelungene Duett Marzellline-Leonore zu streichen (die Inszenierung, um doch davon zu sprechen, macht es zu einer Klamotte, wo Marzelline die Hochzeit probt), wie gut auch, auf die Mannen des Pizarro zu verzichten, die niemand braucht.

Kurz, jeder schreibende Mensch weiß, dass Gelungenes daraus resultiert, dass man seinen ersten Entwurf überarbeitet (auch mehrmals, wenn nötig). Das ist bei Malern und Komponisten genau so. Und diese Erstfassung des „Fidelio“ – die auszugraben ja, ehrlich gestanden, eher ein musiktheoretisches als „lebendiges“ Unterfangen ist – beweist allen, die es wissen wollen, wie glücklich Beethoven da „verbessert“ und „korrigiert“ hat. Da kann man Fassung Nr. 2, die uns ja das Theater an der Wien zeigen wird, beruhigt hintanstellen. Der Sprung von 1805 zu 1814 war der vom ersten Versuch zum finalen Meisterwerk.

Bei dem auch heute viele Leute noch der Text stört (wenngleich wahre „Fidelio“-Freunde die Kalauer quasi lächelnd-glücklich mitsprechen – Humor muss man schon haben). Aber ist der Rückgriff auf die Urfassung dazu da, dass man sie noch schlechter macht – mit einem neuen Text und mit „Ideen“ der Regisseurin? Und wenn schon ein neuer Text – warum kann man dann nicht mit ein paar Worten begründen, warum die Gefangenen in dieser Fassung völlig unvermittelt und unbegründet in den Hof kommen? Warum kann man nicht erklären, wieso Pizarro sich im Kerker auf einmal verdrückt? Gut, er bringt laut Regisseurin, die der Leonore gar nichts gönnt, diese Dame um, so dass sie den Rest der Oper nur noch sterbend, sich den blutigen Bauch haltend, herumwankt. Aber er könnte ohne weiteres noch Florestan erledigen, kein Trompetensignal verkündet die Ankunft des Ministers?

Aber der Text von Moritz Rinke, der eine ziemliche Katastrophe für sich ist, ist offenbar nur dazu da, die Leonore für die Regisseurin zu verdoppeln, damit die Dame mit sich selbst plaudern (oder eigentlich: räsonieren) kann, und immer wieder haarsträubend-hanebüchene Banalitäten zu formulieren. Offenbar inszenieren Regisseure nur noch Werke, an die sie nicht glauben – Amélie Niermeyer hat bei ihren drei letzten Wiener Arbeiten (mögen es die letzten gewesen sein) gezeigt, wie egal ihr das jeweilige Original ist, Hier, wo es Beethoven um die „Gattenliebe“ geht, um die, ja, Heldentat einer Frau, die zu sehr liebt, um sich mit dem Verschwinden des Gatten hinter Kerkermauern abzufinden (übrigens gab es solche Fälle von den Nazis bis zu den Diktaturen Chiles und Argentiniens) – da lässt Frau Niermeyer ihre Leonoren diskutieren, ob sie wohl das Richtige tue, und die Zweifel gehen bis zum Ende, wo die sterbende Leonore (ihre Doppelgängerin darf dafür mit Gatten Florestan schäkern) in Glitzerkitsch nicht Erlösung und Befreiung erlebt, sondern nur… ja was? Ja was?

Wollte man die Sinnlosigkeit der Inszenierung in Details aufzählen, man käme nicht zum Ende. Offenbar war der Regisseurin die „Zweite Leonore“, wie wir dieses Musikstück nennen, das damals wirklich noch die Ouvertüre war, zu lang. Gut, man hat selten eine holprigere Fassung gehört, an den Herrn Philharmonikern kann es nicht liegen, sie haben das Publikum gerade mit dieser Musik oft genug in den Himmel geschickt. An Herrn Tomàs Netopil am Pult vielleicht, denn der ganze Abend klang – hölzern, aber man ist gerne bereit zu glauben, dass da der Komponist später noch sehr gefeilt hat.

Dennoch: Bebilderung braucht man zur „Zweiten Leonore“ keine, aber man bekommt sie zwanghaft – das Ehepaar in einem Zimmer mit Doppelbett, so künstlich flirtend, wie man es nur in schlechten Filmen sieht (sie droht sogar mit ihrem Stöckelschuh – welche Frau von Verstand täte so etwas?). Ja, und wenn er dann verschwindet (so ist in dem Roman Polanski / Harrison Ford-Film „Frantic“ die Ehefrau abhanden gekommen – ins Nebenzimmer gegangen und weg), ja, dann verdoppelt sich Leonore in ihrem Kummer. Wird nur noch Blödsinn reden. Und die Katastrophe des Abends (der auch dank Alexander Müller-Elmau und Annelies Vanlaerech eine echte optische Scheußlichkeit ist), nimmt seinen Lauf. Wo Amélie Niermeyer beispielsweise dafür sorgt, dass Rocco, Leonore, Marzelline und Jaquino alle durcheinander brüllen, man weiß nicht warum, es ist halt Regie. Aber danach sollen sie innehalten und „Mir ist so wunderbar“ singen? Also wirklich! Genug!

Genug der Aktionen im Gefängnis, von denen man meist nicht weiß, was sie sollen, genug der profillosen Leistungen der Interpreten – was da darstellerisch verdorben wurde, geht auf das Konto der Regie. Dass man einen musikalisch mehr als unglücklichen Abend vor sich hatte, das lag an den Sängern.

Drei dunkle Stimmen, eine überforderter als die andere: Thomas Johannes Mayer fast peinlich kraftlos als Pizarro; Falk Struckmann, der schon lange nur mehr (stimmlich) ein Schatten seiner selbst ist, als völlig unprofilierter Rocco; und schließlich Samuel Hasselhorn im Sebastian-Kurz-Look (nur dass zum blauen Anzug die Krawatte fehlte, es ist der grüne Andere, der die Krawatten verweigert), der ununterbrochen nichts anderes hören ließ, als dass er mit dieser Rolle an seine stimmlichen Grenzen stieß.

Neben Jörg Schneider, der als Jaquino eigentlich nichts falsch machen konnte, dazu ist die Rolle zu klein und seine Stimme zu gut, Benjamin Bruns als Florestan, zuerst davon profitierend, dass die Arie in ihrer Erstfassung wenig verlangt, sich aber bei den ersten wirklich dramatischen Anforderungen schon schwer tat.

Die Stimme von Chen Reiss ist so hart und scharf geworden, dass man sich fragt, welches Fach sie derzeit damit singen soll. Und Jennifer Davis, die immerhin den deutschen Sprechpart ordentlich meisterte? Weiß die Direktion nicht, welche Rolle die Leonore ist (selbst in der Erstfassung!) und wie man sie folglich besetzen müsste? Katrin Röver spielte Leonore die Zweite, eine versierte Schauspielerin, keine Frage. Gebraucht hat man sie nicht.

Auch nach der zweiten Vorstellung gab es Buh-Rufe, und der Beifall war lapidar kurz. Dabei hatte das Publikum zwischendurch des öfteren seine Gutwilligkeit bewiesen und auch nach Leistungen geklatscht, die es nicht wert waren. Jetzt warten wir doch dringend auf den „echten“ Fidelio, den von Beethoven, von Schenk und mit Schager…

Foto: Wiener Staatsoper / Pöhn

Renate Wagner, 6.2.2020

Mit besonderem Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)