Das Musical-Vaudeville Chicago (Kander/Ebb/Fosse) mit deutscher Übersetzung von Erika Gesell und Helmut Baumann sowie Song-Texten in englischer Sprache hatte jetzt in Hannover eine höchst erfolgreiche Premiere.
Zur Vorgeschichte: Am 3.April 1924 erschoss die verheiratete Beulah Annan ihren Liebhaber in Chicago: Sie stellte sich nach ihrer Verhaftung den Fotografen und machte den Gerichtssaal zu ihrer Bühne. Als das Interesse der Öffentlichkeit abzunehmen drohte, erklärte sie, schwanger zu sein, wohlwissend, dass Schwangere in Illinois nicht hingerichtet werden durften. Nach dieser Eröffnung sorgte ihr Rechtsanwalt dafür, dass der Prozess beschleunigt abgewickelt wurde; mit Hilfe der Presse wurden Lebenslauf und Tathergang so geschönt, dass die Angeklagte schließlich freigesprochen wurde.
Die junge Reporterin Maurine Dallas Watkins erhielt von der „Chicago Tribune“ den Auftrag, eine Serie über Frauen zu schreiben, die ihren Mann oder Liebhaber getötet hatten. Sie verfasste daraus ein Schauspiel, das im Dezember 1926 in New York uraufgeführt wurde und 172 Aufführungen erreichte. 1927 folgte ein Stummfilm, 1942 ein Tonfilm mit dem Titel „Roxie Hart“ und Ginger Rogers in der Hauptrolle. Erst nach dem Tode der Autorin wurde die Freigabe des Stoffes für ein Musical erteilt. Fred Ebb und Bob Fosse schrieben das Buch, Ersterer auch die Liedtexte, die John Kander mit Musik unterlegte. Es entstand eine bitterböse Satire auf die amerikanische Justiz und deren Verfahrensweisen. 1975 fand die Musical-Premiere in New York statt und hatte mit 923 Vorstellungen eine der längsten Laufzeiten überhaupt; Deutschlandpremiere war 1977 in Hamburg. Im Laufe der Jahre kam es u.a. über München, Berlin und Stuttgart nun auch nach Hannover, mit deutschem Text und englischen Songs.
Felix Seiler setzte bei seiner turbulenten Inszenierung auf Tempo, nahtlose offene Szenenwechsel und tolle Lichtregie (Fabian Grohmann). Dabei kam er mit vier großen, auf Rollen leicht verschiebbaren Treppenelementen und einem zeitweilig schräg darüber hängenden, runden Spiegel als einzige Kulissen aus; schäbige Gefängnis-Tristesse und Glamour-Kontraste wurden durch jeweils passende Kleidung und einzelne farbliche Heraushebungen gesetzt, mit Gelb für die Klatschkolumnistin und Rot für den Anwalt (Bühne/Kostüme: Timo Dentler/Okarina Peter). Die für ein Musical wichtige Choreographie hatte Danny Castello phantastisch arrangiert, wobei an die Protagonisten hohe Anforderungen bei der Einbeziehung der Treppenstufen gestellt wurden.
Die musikalische Leitung der vorwiegend aus Bläsern und Schlagwerk bestehenden Band aus dem Niedersächsischen Staatsorchester, durch Saxophonisten sowie Zupfinstrumente angereichert, lag in Händen des neuen 2. Kapellmeisters Piotr Jaworsky, der die Musiker zu Höchstleistungen anfeuerte und die wenigen ruhigeren Phasen entsprechend gestalten ließ. Als naive Roxie Hart, die gerade ihren Liebhaber erschossen hatte und sich im Gefängnis mit ihren „Kolleginnen“ zu arrangieren versucht, gelang Jeannine Michèle Wacker ein überzeugendes Rollenbild; sie lernt im Gefängnis schnell, sich jeder Situation anzupassen, um möglichst im öffentlichen Rampenlicht zu stehen (Me and my baby). Vorbild ist für sie Velma Kelly (Karin Seyfried), die die Gruppe der „Mörderinnen“ beherrscht und auf die Winkelzüge ihres „gekauften“ Verteidigers vertraut. Mit I can’t do it alone und dabei atemberaubender Akrobatik auf den Stufen versuchte diese, sich bei Roxie beliebt zu machen. Beide werden umschichtig von dem windigen, korrupten Anwalt Billy Flynn (Fabio Diso) vertreten, der seine Maxime All I care about is love herrlich ausspielte. Eine umjubelte Gefängnisdirektorin Mama Morton gab Patricia Hodell, die Roxie das Leben in der U-Haft erklärt: When you’re good to Mama. Amos Hart, einfältiger Ehemann von Roxie, war Philipp Kapeller, der außer gutem Spiel mit Mr.Cellophan seinen schönen Tenor effektiv zur Geltung brachte. Überwältigend war die Darstellung der Mary Sunshine von Martin Mulders, der mit seiner üppigen, in der Höhe bewusst schrill werdenden Stimme in A little bit of good überzeugte.
In weiteren kleinen Rollen erfreuten Richard Patrocinio, Christopher Bolam und James Cook. Zur Gruppe der sechs Mörderinnen, die ihre Taten in köstlicher Kurzfassung für Roxie zum Besten gaben, gehörten neben Karin Seyfried noch Jessica Rühle, Daniela Tweesmann, Janina Moser, Maria Joachimstaller und Veronica Appeddu.
Das Publikum im ausverkauften Haus war von dieser schmissigen Premiere zu Recht begeistert und bedankte sich mit lang anhaltendem Applaus.
Marion Eckels, 7. Dezember 2024
Chicago
John Kander
Staatsoper Hannover
Premiere am 6. Dezember 2024
Inszenierung: Felix Seiler
Musikalische Leitung: Piotr Jaworsky
Niedersächsisches Staatsorchester
Weitere Vorstellungen: 11., 19., 31. Dezember 2024 +4., 12., 17., 21., 24. Januar 2025 etc.