München: „Pelleas et Melisande“

Besuchte Aufführung: 1.7.2015 (Premiere: 28.6.2015)

Distanz und Kommunikationsprobleme

Ein Publikumsmagnet ist sie wahrlich nicht, indes eines der beeindruckendsten Erzeugnisse des Musiktheater-Repertoires: Claude Debussys auf einem Drama des belgischen Literatur-Nobelpreisträgers Maurice Maeterlinck beruhende Oper „Pelléas et Mélisande“. In den vergangenen Spielzeiten war das Werk u. a in Stuttgart, Frankfurt, Coburg und Augsburg zu sehen gewesen. Jetzt bildete dieses reizvolle Stück im Prinzregententheater den Auftakt zu den diesjährigen Münchner Opernfestspielen.

Markus Eiche (Golaud), Elena Tsallagova (Mélisande), Elliot Madore (Pelléas)

Alles in allem war es ein gelungener Abend. Die musikalischen und gesanglichen Leistungen waren packend und auch die Inszenierung wirkte gut durchdacht. Regisseurin Christiane Pohle war es nicht darum zu tun, ein romantisches Märchenstück auf die Bühne zu bringen. Vielmehr verorteten sie, ihr Regie-Mitarbeiter Malte Ubenau, Bühnenbildnerin Maria-Alice Bahra und Sara Kittelmann (Kostüme) die dramatische Handlung gekonnt in einem modernen Ambiente. Wenn sich der Vorhang öffnet, erschließt sich dem Blick rechts eine Hotelhalle der 1950er Jahre mit einer Rezeption, an der von den Gästen öfters Briefe und Pakete abgeholt werden, links ein breiter, transparenter Kasten und im Hintergrund eine gläserne Schiebetür, die auch mal ihren Dienst versagt. Der ursprüngliche Wald wird auf einige von Mélisande hergerichtete Zimmerpflanzen reduziert. Dieser Gedankenraum lässt in keinster Weise Wärme und Geborgenheit aufkommen. Alles wirkt kalt und nüchtern.

Elliot Madore (Pelléas), Statisterie, Elena Tsallagova (Mélisande)

Betrachtet man sich den atmosphärisch dichten, dunkel ausgeleuchteten Bühnenraum genauer, wird einem Einiges bekannt vorkommen. So gemahnen die braunen Vertäfelungen und die Polstermöbel stark an die Inszenierungen von Christoph Marthaler. Und auch das Gemälde „Nighthawks“ des Malers Edward Hopper wird zitiert. Der Einfluss Marthalers setzt sich bis in die Kostüme fort und wirkt insgesamt reichlich überzogen. Auch bei Marthalers langjähriger Bühnenbildnerin Anna Viebrock waren Anleihen zu konstatieren. In stilistischer Hinsicht ist von der Regisseurin hier schon deutlich von anderen Größen der Opern- und Theaterszene abgekupfert worden, was nicht gerade originell anmutete. Wäre man als alter Theaterhase ohne Kenntnis des Namens des/der Regisseurs/in in die Aufführung gegangen, wäre man ganz selbstverständlich davon ausgegangen, einer Marthaler-Inszenierung beizuwohnen. Ist Frau Pohle eine Schülerin oder Assistentin von ihm? Daran, dass sie ihn sehr schätzt, kann jedenfalls kein Zweifel bestehen. Sie sollte indes versuchen, aus seinem zumindest hier übermächtigen Schatten herauszutreten und eine eigene, unverwechselbare Handschrift zu entwickeln.

Elena Tsallagova (Mélisande), Alastair Miles (Arkel)

Ihr gedankliches Konzept vermochte da schon viel mehr für sich einzunehmen. Sie setzt nicht auf Realismus, Symbolismus, oder figurativ Greifbares. Ihr Ansatzpunkt geht darüber hinaus. Er zielt nicht auf Konkretisierung und führt vielmehr ins Unfassbare. Das Ungreifbare und das Widersprüchliche des Sujets sind es, denen in erster Linie ihr Interesse gilt und denen sie sich mit großer Liebe annimmt. Das Ergebnis ist damit reichlich assoziativer Natur. Der Absage der Regisseurin an alles Substantielle entspricht es, dass sich alles gleichsam in den Köpfen der Handlungsträger abzuspielen scheint. Real ist hier kaum etwas. Nachhaltig verschmelzen die verschiedenen Ebenen miteinander. Traum und Wirklichkeit, Wahn und Realität wechseln sich ab und überlagern sich zunehmend. Dem entspricht es, dass immer mehr seltsam anmutende, skurrile Gestalten, wie Ikarus mit weißen Flügeln oder Hasengestalten, über die Bühne laufen. Das äußere Geschehen interessiert Frau Pohle nicht im Geringsten. Vielmehr legt sie den Fokus gekonnt auf die innere Handlung. Brüche im Gesamtgefüge versucht sie nicht weiter zu kitten, sondern lässt sie bewusst im Raum stehen. Diese Interpretation von innen heraus war recht ansprechend.

Elena Tsallagova (Mélisande), Elliot Madore (Pelléas)

Auch psychologische Bezüge schimmerten durch. Zwar lag auf diesen nicht das Hauptgewicht der Inszenierung, dennoch war eine gewisse Orientierung an Sigmund Freud nicht zu übersehen. So wenn die Regisseurin Mélisande an einer ausgemachten Psychose leiden lässt, die wohl aus einem als Kind erlittenen Missbrauch herrührt. Daraus resultiert, dass sie keinerlei Berührung duldet. Ihr „Ne me touchez pas“ prägt das ganz Geschehen. Nicht Nähe ist hier angesagt, sondern Distanz. Selbst dann, wenn die beteiligten Personen sich nach dem Textbuch ganz nah sein müssten, werden sie von Christiane Pohle weit voneinander entfernt positioniert. Jedwede Zärtlichkeiten zwischen dem Titelpaar und auch Golaud sind ausgeschlossen. Die Protagonisten sind unfähig zum gegenseitigen Miteinander und bleiben strenggenommen immer allein, auch wenn sie zusammen sind. Sie haben sich praktisch überhaupt nichts mehr zu sagen und gehen nur noch ihre eigenen Wege. Hier zeigt die Regisseurin auf eindringliche Art und Weise die Kommunikationsstörungen innerhalb der Familie des alten Königs Arkel auf, der zwanghaft stets einen Stuhl mit sich führt, an den er sich wie an einen Thron klammert. Und wenn es schließlich doch mal zu Berührungen kommt, wirken diese ziemlich brutal. So wenn Golaud seinen Sohn Yniold stark bedrängt, um von ihm zu erfahren, was zwischen Pelléas und Mélisande vorgeht. Oder wenn letztere bei ihrem Mann Golaud auf einmal die Umarmungs-Initiative ergreift und es dabei heftig zugeht. Warum sie dies tut, wird indes nicht ersichtlich. Es bleiben, wie gesagt, viele Fragen in Frau Pohles Deutung offen, dies aber ganz in Einklang mit dem Libretto. Am Ende, wenn bis auf den tot am Boden liegenden Pelléas praktisch das gesamte Ensemble samt Statisterie auf Stühlen vorne an der Rampe sitzt, stirbt Mélisande nicht, sondern geht einfach von der Bühne – ein eindringliches Schlussbild.

Elliot Madore (Pelléas), Elena Tsallagova (Mélisande), Markus Eiche (Golaud), Peter Lobert (Arzt)

Gesanglich konnte man hoch zufrieden sein. Elena Tsallagova hat Mélisandes wechselseitige Beziehungen zu den beiden Brüdern und ihre Psychose durch intensives, emotional angehauchtes Spiel gut zum Ausdruck gebracht. Auch stimmlich vermochte sie mit ihrem gut gestützten, klaren, leicht und ebenmäßig geführten Sopran für sich einzunehmen. Elliot Madore wartete als Pelléas insbesondere in der Mittellage und im Passagio mit einem trefflich verankerten, vollen und runden Bariton auf, der ihm indes bei den extremen, bis zum hohen a reichenden Spitzentönen der Partie etwas aus der Fokussierung rutschte, was einen dünnen, kopfigen Klang zur Folge hatte. Mit enormer darstellerischer Intensität und einer prachtvollen, hervorragend verankerten und sehr nuanciert und wandelbar geführten Baritonstimme zog Markus Eiche alle Register des Golaud. Ihm gelang mit sehr differenzierter und ausdrucksintensiver Tongebung ein sehr facettenreiches Portrait des älteren Bruders von Pelleas, dessen innere Stürme er bestens vermittelt hat. Das war die beste Leistung des Abends! Mit warmer, profunder Mezzosopranstimme wertete Okka van der Damerau die kleine Rolle der Geneviève auf. Solides Bassmaterial brachte Alastair Miles für den Arkel mit. Was Stimmgewalt und Sonorität des Vortrags angeht, war ihm Peter Lobert in der kleinen Partie des Arztes überlegen. Nichts auszusetzen gab es an Evgenij Kachurovski als Hirt. Mit kräftigem Knabensopran sang Hanno Eilers den Yniold. Nicht sehr viel zu tun hatte der Bayerische Staatsopernchor, der von Sören Eckhoff wieder einmal perfekt einstudiert wurde.

Elliot Madore (Pelléas), Markus Eiche (Golaud), Statisterie

Bei Constantinos Carydis und dem brillant aufspielenden Bayerischen Staatsorchester war Debussys vielschichtige Partitur in besten Händen. Es mutete schon erstaunlich an, wie viele Farben und Schattierungen der Dirigent der expressionistischen Musik zu entlocken wusste. Auch ihm war eine romantische Ausdeutung eher fern. Stattdessen setzte er bei seinem Dirigat auf rationale Verankerung und Kompaktheit des Klangbildes, dem er zudem einen recht transparenten Anstrich gab.

Fazit: Insgesamt eine durchaus zu empfehlende Aufführung, die den Besuch gelohnt hat.

Ludwig Steinbach, 2.7.2015

Die Bilder stammen von Wilfried Hösl